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Kreml-Astrologe vermißt Einheitswurst

Kohl vor Moskau / 240 Journalisten aus dem Begleittroß sind schon angekommen / Wolfgang Leonhard fordert Brain-Trust für Gorbatschow: Mehr Konsumgüter für die Sowjetbürger / Lothar Loewe empfiehlt blaue Herren-Socken  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Natürlich verspätet sich die „Delegazija“ fast um eine volle Stunde. Die Dolmetscherinnen, die geschmackvoll und diskret gekleidet hinter den Katzentischen in der Halle des Hotel „Intourist“ sitzen, werden langsam nervös. Trotzdem sind sie eine Augenweide im Vergleich zu den Damen, die sich sonst hier aufhalten - das „Intourist“ ist nämlich in Moskau - um es vornehm auszudrücken, „Zentrum der Prostitution“. Eine Stelltafel weist auf Sightseeing-Tours für die erwarteten Journalisten hin, als ob diese nichts besseres zu tun hätten. Als sie eintreffen, vollzieht sich das Schlangestehen mit professioneller Disziplin. Wie der Flug gewesen sei, nun, die Maschine habe an eine Büchse voller Heringe erinnert, aber man wolle nicht klagen: ein schöner ruhiger Flug. Ein Fotoreporter, der schüchtern über das zögerliche Verfahren murrt, wird von seinem Kollegen zurechtgewiesen: „Das hier ist doch die reinste Erholung, du hast wohl noch nie in ungeheizten Räumen übernachten müssen?“ Doch, meint der erste, einmal drei Monate lang in China bei minus sechs Grad. „Das reicht nicht“, kommt prompt die Antwort, „so etwas muß man mindestens drei Jahre lang mitgemacht haben.“

Die alten Sowjetunion-Hasen sind entweder ein wenig früher angereist oder als erste durch die Rezeption gegangen. Lothar Loewe, nach der Befreiung vom SFB-Intendanten-Amt nun sichtlich geläutert, hat schon zwei Tage lang die Moskauer Kaufhäuser und Märkte abgeklappert und ist erschüttert über die schlechte Versorgungslage. Selbst in den sechziger Jahren sei es besser gewesen: „Da gab es eine schreckliche Einheitswurst namens 'Doktorskaja‘, die ist jetzt auch von den Ladentischen verschwunden.“ Und dennoch hat er einen „Knüller“ entdeckt und empfiehlt allen männlichen Kollegen die wunderbaren blauen Marinesocken aus dem Armeewarenhaus. Wolfgang Leonhard, Ex-Sowjet-Exilant, läuft an der Schlange entlang und agitiert seine Bekannten. Er möchte in den drei Tage eine Art „Brain-Trust zur Rettung Gorbatschows“ gründen. „Wenn der Junge es nicht spätestens in drei Jahren schafft, mehr Konsumgüter und Nahrungsmittel auf den Markt zu werfen, geht es mit ihm den Bach runter. Leute, solange wir hier zusammen sind, muß uns doch was einfallen. Das Pachtsystem in der Landwirtschaft ist ja eine geniale Idee, aber das alleine reicht nicht aus“, meint er mit dem Blick eines besorgten Vaters.

Ein Kollege, der schon auf seinem Zimmer gewesen ist, kommt von Glück überwältigt zurück: „So ein Riesenhotel, und gerade ich habe den Blick auf den Kreml.“ Eine fast weihnachtliche Vorfreude schwebt über der Menge, die auch durch kleine Ansätze zur Panik nicht getrübt wird. Fast alle Fotografen möchten die Außenminister Genscher und Schewardnadse aufs Korn nehmen und fürchten nun, daß der entsprechende „Pool“ zu klein wird. Die Wirtschaftsleute wissen noch nicht (und werden auch am späten Abend noch nicht wissen), wie für sie der nächste Tag aussehen soll. „Das wird noch chaotischer als beim Bundespräsidenten“, bemerkt einer, der schon damals dabei war, mit sadistischem Genuß.

Mitten im Gewühl stehen zwei amerikanische Juden mit Melonenhüten und Rauschebärten, der ältere klein und rund, der jüngere groß und dünn - wie Patt und Patachon -, die nun an der Rezeption überhaupt nicht mehr zum Zuge kommen. Auf meine Frage nach ihrem Heimatort erklären sie stolz: „New York City, the financial capital of the world“, und dann erstaunt-belustigt: „Who would tell that this hotel here is so busy.“

Mit sich führen sie zwei gewaltige Segeltuchtaschen voller Mazzen. Auf die Frage, ob sie in der Sowjetunion Verwandte zu versorgen hätten, erklären sie, daß es sich hier um ihren eigenen Proviant für die gesamte Reise handele. „In diesem Land gibt's ja nichts Koscheres.“

Einem italienischen Paar, das seine Zimmer verlängern möchte, wird beschieden, daß wegen der deutschen Delegazija im Moment absolut nichts zu machen sei. „Und wie wird es am Wochenende?“ frage ich besorgt, weil ich meine Pläne gefährdet sehe. „Das wird gehen“, meint die Dame begütigend, „nach dem Siebenundzwanzigsten ist hier alles wieder normal.“

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