DAS TIERGARTENVIERTEL

■ Vielleicht ein Ort, „wo man berufsmäßig die Welt verabscheuen könnte“ (Cioran)

„Es geht aber tatsächlich darum, von der Gegenwart eine dichte, ausdauernde Wahrnehmung zu haben, die es uns erlaubt herauszufinden, wo die Linien der Schwäche und wo die starken Punkte sind, womit sich die verschiedenen Mächte verknüpft haben, wo sie sich eingepflanzt haben; anders ausgedrückt: eine topographische und geologische Aufnahme der Schlacht machen...„ (Michel Foucault

Am Beginn des „Projekts Tiergarten“ stand der Kleinkrieg um den Erhalt der zum Abriß bestimmten Parey-Villa in der Sigismundstraße - eine Mieterinitiative als harter Kern einer Bürgerinitiative. Währenddesen und danach begannen einige der aktiv Beteiligten, vornehmlich beruflich mit „Planung“ und „Projekten“ befaßte, systematisch das umliegende Gelände zu erkunden - das heißt den Tiergarten „aufzuarbeiten“.

Nun ist daraus, verlegt vom Verlag „Das Arabische Buch“ und der NGBK und finanziert vom Kultursenat, der Katalog Vom Alten Westen zum Kulturforum entstanden.

Die Siegessäulen-Geschichte: von Hans Paasche, der sie in die Luft sprengen wollte und deswegen aus dem Berliner Arbeiter- und Soldatenrat ausgeschlossen wurde, über die Schwulen, die sie fortwährend atmosphärisch angreifen, bis zu Wim Wenders, der sie in einem Berlin-Werbefilm verklärte und dafür staatlich geehrt wurde..., diese Geschichte habe ich darin nicht gefunden. Ebensowenig jene über Bismarck, Roon und Moltke: die drei glorreichen Halunken, die durch eine kleine schnelle Telegramm-Verfälschung den deutsch -französischen Krieg anzettelten (aus „einer Chamade eine Fanfare“ machten, so Wilhelm Liebknecht).

Wenn man sich an die Kartographie einer Region heranwagt, schwebt einem als Ideal der Maßstab 1:1 vor. Seit Borges wissen wir von der Absurdität eines solchen Unterfangens. Für den „kritischen Regionalismus“ hat Enzensberger sich dann beides gewünscht: eine prospektive Annäherung an diesen Maßstab und ihre proliferierende Absurdität.

Eine derartige Deliranz, mit der „Heimatgeschichte“ einzig noch zu ertragen wäre, habe ich im Katalog eigentlich nur in dem Beitrag von Claudio Lange gefunden: Rolandomanie heißt seine Textcollage, die um einen zerstörten Rolandsbrunnen und „Orlando Furioso“ kreist - also eine völlig vernachlässigbare Größe zum Zentrum hat. Das hat mir schon mal gefallen. Und dann erwähnt Claudio Lange darin, meines Wissens als einziger, die vielen geheimnisvollen Schäferhund-Abrichteplätze um den Potsdamer Platz, die uns mehr über den Nationalsozialismus sagen könnten als alle „Holocaust-“ und „Shoa„-Filme zusammen (hinter der Mauer auf der anderen Seite des Potsdamer Platzes starb 1945 der Führerhund „Blondie“ im sogenannten „Führerbunker“). Darüber hinaus hat der Autor, ein Exilchilene, der bei Klaus Heinrich über Las Cassas promovierte, auch noch das Katalog -Projekt selbst thematisiert: „Über das Tiergartenviertel zu arbeiten, vom Penner- zum Kultur-Strich-Forum, erzeugt Angst, Karrierismus, Korruption. Man ist im Zentralen Bereich. Seine Tabula rasa bietet die seltene Möglichkeit, den Schnitt durch Moderne und Postmoderne zu untersuchen. Wie der Fisch in die Zeitung, kommt das Fotomaterial in Schuhkartons.“

(Im Lesesaal der Stabi kam mir unlängst, vorm IWF-Kongreß, die Idee, daß die meisten Linken der Stadt schon aus dem Grund nicht demonstrieren und dabei Verhaftung riskieren würden, weil sie zu sehr beschäftigt waren: mit Ausstellungen, Veröffentlichungen, Besprechungen, Installationen usw. - das aber nur nebenbei!)

Was ist mit dem Rest des Katalogs? Einiges an beispielhafter Oral-History, wie man heute blödsinnigerweise die Mitschnitte von Gesprächen mit „Zeitzeugen“, meistens den Opfern, nennt, ein paar schöne Fundstücke: zum Beispiel im Interview mit Raffael Rheinsberg der Hinweis auf „Piko“, einen Maler, der mit seinem Esel früher in der norwegischen und in der japanischen Botschaft lebte, jetzt in den Ruinen der albanischen. Und ein Gespräch mit Dörthe Crass, Mutter von Johannes Grützke und ehemalige „Trümmerfrau“ im Tiergarten. Sie erwähnt unter anderem, daß die Ruine der spanischen Botschaft lange Zeit ihre Baubude war (während seiner Arbeit an der „Spanischen Botschaft“ hat Francesc Torres sich oft gefragt, wer dort seit 1945 die verlassenen Hallen wohl alles benutzt haben mag; in seiner Installation taucht diese Frage an einer Stelle als saubere Kopie einer „Wandschmiererei“ auf).

Allzu sauber ist im Katalog das Kapitel „Kubat-Dreieck“ geraten, weil man dazu dummerweise als Autor den auf dem Gelände seinerzeit schon allzu penetrant in Erscheinung getretenen Besetzer-„Pressesprecher“ Stephan Noe gewonnen hatte. Sein Beitrag ist der einzige im Katalog, der alle Benamungen von „positiven (Bezugs-)Gruppen“ mit der Ekel -Endung „-Innen“ abrundet - was hier aber immerhin eine weitere Charakterisierung seines Textes erübrigt.

Von ähnlichem Alternativ-Kaliber sind die „Notizen“ des Fremdenführers Flügge: „Ich erzähle auch„/„Ich vergleiche dieses Gelände manchmal“, er verschweigt nicht einmal... ungeheuer mutig dieser Mensch. Noch mutiger wäre es gewesen, statt dessen die reaktionäre Zotik eines normalen Fremdenführers zu protokollieren, das hätte auch einiges an Wiederholungen eingespart.

Wie immer besonders unengagiert und uninspiriert, sie nennt das wahrscheinlich „wissenschaftlich“, der Beitrag der HiKo -Heimatforscherin Gabriele Silbereisen.

Andere Aufsätze, darunter auch viele mit Flattersatz, sind sprachlich einfach Grütze - dazu ein Zitat: „Das prächtig gediehene, aber verkrüppelte Nachkriegskind Berlin konnte von zahllosen Zuschauern versteckt werden hinter der Erscheinung einer alten ehrwürdigen Dame, deren Narbe auf der Stirn man höflich übersehen würde, und die immer wieder die Anekdote zum Besten gibt, sie wäre in einem unbewachten Augenblick als Kleinkind in den Urwäldern der Spree von einem Bären gesäugt worden.“ - Das sind die schrecklichen Folgen von zu viel Himmel über Berlin.

Auch der Spaziergang mit Ferdinand Lasalle ist ziemlich blöde (man lese statt dessen lieber das in der Edition Sirene erschienene Buch über die Berliner Geselligkeit im 19.Jahrhundert). Einigen Autoren, die im Zivilberuf Stadtplaner oder Architekten sind, merkt man ihren Beiträgen bereits an, daß sie mehr und mehr mit Behörden korrespondieren. In der Geschichte der St.Matthäus -Gemeinde, von Germanist Burger, geht der „neue Regionalismus“ sogar schon wieder fließend in den alten Heimatgeschichte-Muff über. Genug gemäkelt.

Zwar meint Olav Münzberg schon in der Einleitung: „Um Trauerarbeit kommt keiner herum“, trotzdem ist dieser Katalog empfehlenswert, geradezu ein Muß - jedenfalls für alle, die irgendwie am „Kulturforum“ mitstricken wollen.

Helmut Höge

Vom Alten Westen zum Kulturforum, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung der NGBK, Verlag „Das Arabische Buch“