Wer möchte etwas sagen?

■ Protokoll einer Debatte über „Die Kinder des Arbat“ in einer sibirischen Bezirks-Bibliothek

Wasif Meilanow

Wasif Meilanow, ein Mathematiker, der wegen einer Solidaritätsdemonstration für Sacharow im Januar 1980 für neun Jahre nach Sibirien - davon sieben in ein Arbeitslager

-geschickt wurde und trotz Glasnost und Sacharows Freilassung dort weiterhin seine Strafe absitzt, beschreibt Szenen einer öffentlichen Diskussion über Sybakows „Die Kinder des Arbat“ in der Bezirks-Bibliothek von Namzi in Jakutien, Sibirien. Im Folgenden einige Auszüge.

Am 28. April, bei meinem Besuch in der Werknewiluski-Bezirks -Bibliothek, sah ich einen Aushang: „Diskussion von Rybakows Roman Die Kinder des Arbat am 29. April um 17.00Uhr. Alle sind herzlich eingeladen.“ Am nächsten Tag war ich um vier Uhr wieder da. Menschen strömten in den Saal. Um fünf Uhr fragte der Bibliothekar, wer aus dem Publikum etwas sagen möchte. Das übliche Schweigen. Dann meldete ich mich.

„Sowjetische Kritiker“, so bagann ich, „halten Rybakows Roman nicht so sehr für literarisch als gesellschaftlich bedeutsam.“ Ich fuhr fort, daß der Roman gesellschaftliche Fragen von großer Bedeutung behandele, aber leider lächerliche Antworten gäbe. (...) Der Grund für den Personenkult, so behauptet er, läge in Stalins schlechtem Charakter. Und der Grund für Stalins schlechten Charakter sei, daß er als Kind einen kranken Arm und sein Vater einen schwachen Charakter gehabt habe, was ihn angewidert hätte.

„Also gut“, sagte ich, „aber was ist dann mit dem Personenkult um Chrutschow? Sein Arm war doch in Ordnung. Was ist mit dem Kult um Breschnjew? Und Gorbatschow? Ich sehe in der Presse keine kritischen Bemerkungen über Gorbatschow. Ich habe da eine andere Theorie über den Personenkult um unsere Generalsekretäre.“

(Meilanow führt aus - trotz ständiger Unterbrechung, daß dies nicht Thema des Abends sei, „wir wollen über Literatur sprechen“ -, daß das leninistische Prinzip, Macht den „politisch Bewußten“ zu geben, schließlich notwendig von der Macht der Partei zur Macht eines Einzelnen führe etc. Das Publikum wie der Bibliothekar werden immer unruhiger und verlangen, er solle aufhören zu reden, was er schließlich auch, nach einem Wortwechsel mit einem alten Kriegsveteran, tut.)

Der Bibliothekar: „Können vielleicht noch ein paar andere Leute an der Diskussion teilnehmen? Dimitri Spiridonowitsch (der Veteran) - möchtest du vielleicht noch etwas sagen?“

Dimitri Spiridonowitsch: „Ich habe mich auf diese Diskussion nicht vorbereitet. Also, was kann man über den Roman sagen? Es ist ein sehr düsteres und widerliches Buch, das unsere Jugend verderben wird. Das beste ist vielleicht, wenn ich meinen Brief ans Zentralkommittee vorlese. 'An Jegor Ligatschew, betrifft: den Brief von Nina Andrejewa'“ (ein Leserbrief, der Anfang des Jahres in 'Sowjetskaja Rossiji‘ für die Verdienste des Stalinismus argumentiert und viel Diskussion provoziert hatte).

Er las also seinen Brief vor. Danach stand eine russische Lehrerin auf, Natalia Iwanowa, und sagte: „Ich stimme Dimitri Spiridonowitsch zu. Das ist ein widerliches Buch. Ich stimme auch demjenigen zu, der gesagt hat, der Roman ist literarisch unwichtig. Worum geht es da? Es ist eine Auseinandersetzung von Hüpfereien von einer Schlafzimmerszene zur anderen.“

Dimitri Spiridonowitsch, mit piepsiger Stimme: „Das ist alles, was die jungen Leute sehen - nur die Schlafzimmerszenen! Das ist das, woran sie sich weiden. Dafür loben sie Rybakow.“

Natalia Iwanowa: „Und noch etwas. Ich finde es nicht richtig, daß Rybakow Gespräche zwischen Stalin und seinen Kollegen einführt. Woher will er wissen, was die miteinander gesprochen haben? Irgendwo habe ich gelesen, daß Rybakow zugab, nicht in die Archive gekuckt zu haben. Das heißt also, er hat alles erfunden. Seine Gedanken über Stalin gefallen mir überhaupt nicht.“

Als nächste sprach eine Freundin von Natalia Iwanowa, auch Lehrerin.

„An einem Punkt stimme ich nicht mit dir überein. Du sagst, alles, was Sascha Pankratow (der Held) täte, sei, von einem Bett ins andere zu hüpfen. Das stimmt nicht. Das sind Wika Marasewitsch und Jura Scharok (andere Romanfiguren), die das tun. Darüber sollte man schreiben. Über sie sollte man die ganze Wahrheit erfahren.“ Dimitri Spiridonowitsch, dessen Stimme immer piepsiger wird: „Nein, nein. Sascha Pankratow war in buchstäblich nichts anderes verwickelt als in perverse Handlungen in Sibirien.“

Natalias Freundin: „Ich möchte auch noch sagen, daß der erste Sprecher sich geirrt hat, der sagte, daß im Roman von Stalins schlimmen Arm und von seinem Vater die Rede ist. Ich habe das nirgends gefunden.“

Natalia Iwanowa: „Doch, doch. Das ist drin.“

Ein Mann mit Bärtchen, etwa vierzig Jahre alt, stand auf, um zu sprechen: „Wir sind heute hierher gekommen, um über Rybakows Roman Die Kinder des Arbat zu sprechen, aber es gibt hier jemanden, der uns daran hindert. Was den Roman betrifft: Ich habe eine Tante in Minsk, die befreundet ist mit Leuten, aus Moskauer Literaturkreisen, ziemlich weit oben. Meine Tante schreib mir: Jura, sehr bald wird ein Buch von Rybakow erscheinen. Du mußt es lesen. Also stellte ich mich dafür an, und wissen Sie was? Ich habe es verschlungen. Ich war von diesem Buch sehr aufgewühlt und warte jetzt auf seine Fortsetzung. Zum Sex: Es ist ganz richtig, daß Rybakow dieses Thema aufgegriffen hat. Bisher haben wir darüber geschwiegen, und die Folge davon ist, daß wir viele Scheidungen haben. Ob die jungen Leute die Sex-Szenen richtig verstehen? Jeder, der Verstand hat, versteht es.“ Er setzte sich.

Ein Physik-Lehrer, Jakute: „Ich bin in Dänemark und Schweden gewesen, in Jugoslawien, Ungarn und Bulgarien. Was kann ich euch über Dänemark zum Beispiel erzählen? Der Lebensstandard ist unglaublich hoch. Die Straßen sind sauber. Man sieht keinen Abfall herumliegen. Wir liefen in Kopenhagen lange durch die Straßen und waren von dem Leben dort sehr beeindruckt - aber dann bog ich einmal in eine Seitenstraße und sah eine alte Frau, die trockenes Brot aß. Genossen, ich habe immer geglaubt, daß die sowjetische Propaganda uns etwas vormacht. Dann begriff ich, daß diese alte Frau genau die aus der Propaganda war. Man hatte mich also nicht angelogen. Es gibt sie wirklich. Ich habe sie gesehen. Es ist hier ein guter Ort, um über die 'Decke‘ zu sprechen, die über unserem Land liegt. Wir sollten uns alle anstrengen, daß sie bleibt. Sie ist eine Garantie gegen den Hunger. Als ich in Kopenhagen war, dachte ich: vielleicht haben sie einen hohen Lebensstandard, aber wir haben Sozialismus, und wenn ich sterbe, wird meine Tochter nicht ohne Brot bleiben. Der Staat wird sie ernähren.“

Der Bibliothekar: „Die Personen des Romans können in drei Gruppen aufgeteilt werden. 1. Die Guten: Sascha Pankratow, Lena Budjagina, Budjagin und Saschas Mutter. 2. Die Unbedeutenden und 3. Die Bösen: Juri Scharok und...“

Auf meinem Weg nach draußen stieß ich auf Leutnant Doktorow, der offenbar die ganze Zeit im Flur gestanden und den Reden zugehört hatte. Ich fragte ihn, warum er gekommen ist. „Ich kam gerade vorbei. Es war angekündigt...“