: Nach dem Wirbelsturm ist die Ernte verfault
Selbst in den ärmsten Gegenden wird für die von der Katastrophe Betroffenen gesammelt / Praktisch alle Betriebe beteiligen sich an den Spendenaktionen / Ohne anhaltende Hilfe aus dem Ausland droht Nicaragua eine Hungersnot ■ Aus Managua Ralf Leonhard
Victor Martinez zerquetscht eine halbreife Salatgurke auf seinem Feld zwischen den Fingern. „Alles verfault“, stellt er fest. Der Wirbelsturm hat das Wasser vom Managua-See heraufgespült und damit die ganze Gemüseernte vernichtet. Wassermelonen, Kürbisse, Bohnen, Getreide, die auf dem lokalen Markt von Ciudad Sandino, einem proletarischen Vorort von Managua verkauft werden sollten, sind verdorben. „Wir haben noch Glück gehabt“, seufzt Dona Tirsa, der nur der Guavabaum entwurzelt und alle Elektrokabel heruntergerissen worden sind, „wir haben acht Jahre Reagan ausgehalten, da werden wir uns von einem Sturm auch nicht kleinkriegen lassen“.
In Ciudad Sandino haben die freiwilligen Brigadisten bereits begonnen, von Haus zu Haus um Spenden für die Opfer an der Atlantikküste zu bitten. Indiana Blanco, die die ärmsten Bezirke organisiert, ist ganz gerührt: „Bei den Leuten, die selber nichts haben, sind sieben Säcke mit Spenden zusammengekommen.“ Kleidung, Kochgeschirr, Werkzeug, alles ist willkommen, denn die Einwohner von Bluefields, Corn Island, El Rama und einigen kleineren Gemeinden an der Atlantikküste müssen nach der Verwüstung durch den Hurrikan „Joan“ bei Null anfangen.
In einem Radio-Marathon wurde Dienstag den ganzen Tag zu Spenden aufgerufen. Da opferten die Arbeiter der Landmaschinenfirma Agromaq einen Tag Arbeitslohn und die Textilfabrik Fanatex steuerte Hosen und Jacken bei. Praktisch jeder Betrieb im Land meldet sich mit einer solidarischen Botschaft und einer Spende vom ohnehin knappen Gehalt.
Die ersten Aufnahmen von den zerstörten Orten zeugen von der Gewalt des Wirbelsturms: Bluefields, eine Stadt mit 35.000 Einwohnern, ist nur mehr ein Haufen von Brettern und Wellblechstücken. Von 6.000 Häusern haben ganze sechs den Windböen von über 200 Stundenkilometer standgehalten. El Rama ist völlig vom Rio Rama verschluckt worden, nur der Kirchturm und die Dächer der wenigen zweistöckigen Häuser schauen aus dem Wasser. Auf dem karibischen Touristenparadies Corn Island ragen nur mehr ein paar vereinzelte Kokospalmen in den Himmel, 70.000 Palmen sind entwurzelt worden. Daß es landesweit nur 50 Tote gegeben hat, scheint angesichts der apokalyptischen Zerstörungen wie ein Wunder. Die Organisatoren, vom Krisenstab der Regierung bis zu den Brigadisten an der Basis, haben fast Übermenschliches geleistet. Leute, die für die Sandinisten nicht viel übrig haben, geben beeindruckt zu, daß sich die Regierung vorbildlich gehalten hat, von den Comandantes hat keiner eine Nacht durchgeschlafen. Umso zynischer erscheinen die Erklärungen aus Washington, wo das State Department fürchtete, daß „der Notstand zu Übergriffen mißbraucht werden könnte“ und wo Reagans Sprecher Marlin Fitzwater jede Hilfsleistung ausschloß, weil „die Sandinisten den Hurrikan als Plattform gegen Reagans Politik und dessen Unterstützung für die 'Freiheitskämpfer'nützten. „Den Schaden können wir noch nicht abschätzen, ich wüßte nicht, wie“, sagte Comandante William Ramirez, der die Evakuierungsarbeiten in Bluefields geleitet hatte.
Die Infrastruktur ist völlig zertrümmert, das Wasser durch überflutete Latrinen verseucht. Die Kokos- und Ölpalmenernte an der Atlantikküste ist zu 80 Prozent vernichtet. Die Reisfelder östlich des Nicaraguasees werden nicht tragen, die Auswirkungen auf die Viehwirtschaft sind noch ungewiß. Der Streß, dem die Rinder in der Sturmnacht ausgesetzt waren, wird noch weitere Verluste fordern. An der Pazifikküste sind durch den Stromausfall 20.000 Hühner umgekommen. Agrarreformminister Jaime Wheelock erklärte, daß der Kaffee vorzeitig reifen werde und teilweise verloren gehe, weil die Zufahrtsstraßen unpassierbar seien. Die besten Kaffeegegenden in der Region Matagalpa/Jinotega sind derzeit noch von der Außenwelt abgeschnitten. Nicaragua braucht dringend 2.500 Tonnen Reis und 5.000 Tonnen Bohnen für eine neuerliche Aussaat, wenn man den zweiten Erntezyklus noch nützen will. Alles, was an Vorräten vorhanden war, wird jetzt an die Obdachlosen ausgegeben. Schon jetzt registrieren die Mediziner bei den meisten Schulkindern Mangelerscheinungen. Wenn in den nächsten Monaten nicht anhaltend geholfen wird, droht dem von Krieg und Wirtschaftsboykott ausgebluteten Land eine Hungersnot.
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