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Moskaus Öffentlichkeit bleibt gelassen

Der Kohl-Besuch rangiert in den sowjetischen Massenmedien hinter innenpolitischen Themen / Allgemeine Zufriedenheit vor den Buffets über die neuen Aussichten der „wirtschaftlichen Zusammenarbeit“ / Deutscher Geschäftsmann hält alles für ein Problem der Verpackung  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Während sich in der Bundesrepublik die Nachrichten über den Kohl-Besuch überschlagen, geben sich die sowjetischen Massenmedien gelassen.

Thema Nummer Eins sind hier die anstehende Verfassungsreform und die bevorstehenden Wahlen zum Obersten Sowjet. Und dann erst kommen die „delegazija“ der Deutschen, die Gespräche zwischen den Regierungschefs und die Verträge. Doch in einem stimmen die deutschen und die sowjetischen Journalisten überein: Was hier gefeiert wird, ist eine neue Etappe in den deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen. Wirklich?

„Jein“, antwortet der Vertreter der Firma Orenstein bei dem Empfang der deutschen Botschaft. „Das ist hier wie bei einer Hochzeit. Jede Hochzeit setzt doch ein langes Liebesverhältnis voraus und vielleicht auch noch eine Verlobung. Und man hofft dann, daß die Kinder möglichst früh selbständig sind“, meint er. Doch soweit ist es noch nicht: „Hier muß ich mich mit fünf Ministerien und 20 Industriebetrieben herumschlagen, wenn ich die Geschäfte ausweiten will. Und das hält auf die Dauer keiner aus.“

In ein ähnliches Horn hatte vor ein paar Tagen ein bekannter außenpolitischer Redakteur der Regierungszeitung 'Iswestija‘ gestoßen. „Das schlimmste bei uns sind nicht die Bürokraten, sondern die Kompetenzverteilung. Auch der gutwilligste Angestellte kann in einer Behörde nichts ausrichten, deren Strukturen so verkrustet und deren Dienstwege so verworren sind wie bei uns. Das wird für die ausländischen Wirtschaftspartner nicht einfach sein.“

Vor dem reichlichen Buffet mit Frankenwein und deutschem Bier macht sich auch Dr.Picha, ein Geschäftsmann, Sorgen, wie es mit Gorbatschow und der Reform weitergehen soll. Für ihn ist die Sowjetunion auch deshalb in der Krise, weil die sowjetischen Waren zu einfallslos verpackt sind. Wie Christo den Reichstag möchte er die gesamte Sowjetunion verpacken. „Die Sowjetbürger sind doch wie andere Menschen auch“, sagt er, „wenn sie eine Ware erstehen, möchten sie gleichzeitig was fürs Auge. Die Sowjets brauchen gar nicht anderen Waren, sie müßten sie nur anders verpacken.“

Der Warenästhet ist auch schon dabei, nicht nur Verpackungsmaterialien einzuführen, sondern gleich ganze Fabriken der Verpackungsindustrie in die Sowjetunion zu importieren. „Zu Gorbatschow gibt es keine Alternative“, beteuert er, „die Sowjetunion ist der Markt der Zukunft, es gibt nichts, was hier nicht gebraucht würde.“

Und auch ein bekannte Banker, der seinen Namen in der taz nicht veröffentlicht wissen will, ist optimistisch über die Zukunftsaussichten für die Wirtschaft. Wenn er früher den Anlegern riet, lieber gleich ihr Geld in der Lotterie zu verspielen, statt sie in der Sowjetunion anzulegen, „laufen die Dinger“ jetzt prächtig.

Ein Wermutstropfen sei allein der Hochtemperaturreaktor von Siemens und ABB. „Die Jungs haben schon wirklich Mut, da zu investieren, wenn man bedenkt, daß die Antiatombewegung schon in einigen Randrepubliken der Sowjetunion Fuß gefaßt hat. In fünf Jahren spätestens werden auch die Russen hier solche Projekte ablehnen“, stellt er fest und schüttelt den Kopf über so schlechte Kalkulatoren.

Auf dem Heimweg treffe ich einen Herrn aus Kohls Wahlkampfteam und erzähle ihm die Verpackungsstory. Auch für ihn ist klar, daß technisches Know-How und neues Design in der Sowjetunion noch dringender benötigt werden als neue Waren. Der Schein der Warenwelt und nicht die Waren selbst sind also das große Manko in der Sowjetunion. „Und der Kohl -Besuch. Ist denn der wirklich eine neue Etappe in den Wirtschaftsbeziehungen?“ „Ach was, das ist doch auch nur eine Verpackung.“ Der Mann muß es ja wissen.

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