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TRÜMMERFLORA

■ in der Topographie des Terrors - ein Vorschlag

Newton Harrison und Helen Mayer Harrison

Dieser Ort erinnert unausweichlich an Schrecken und Gewaltherrschaft. Weder mit dem Ort noch mit dem Schrecken läßt sich umgehen ohne eine vollständige Darstellung der jüngeren Geschichte, doch es gibt kein historisches Vorbild, auf das man dabei zurückgreifen könnte. In dieser Hinsicht ist die von uns vorgeschlagene Gestaltung etwas Neues. Sie hat weder ein Bildnis zum Mittelpunkt noch einen erhabenen Bau. Vor allem aber ist sie nicht darauf angelegt, auf ewig unverändert zu bestehen. Wie die Erfahrungen und Ereignisse, die sie vorstellt und darstellt, läßt auch sie sich nicht in einem Augenblick erfassen oder in eine einzige Gestalt bringen.

Die Geschichte dessen, was an diesem Ort geschah, wird im Augenblick einfach erzählt: in einem kleinen Gebäude „Topographie des Terrors“ und auf einer Anzahl von verwitterten Tafeln, die die frühere Lage des Gebäudes anzeigen. Was hier aber wirklich geschah, ist zumindest dies: Eine gut funktionierende und engagierte Bürokratie betrieb und ermöglichte den Tod von über sechs Millionen Menschen, die von dem Staat, der diese Verwaltung einsetzte, nicht für würdig befunden wurden, weiterzuleben.

Die Gedenkstätte

Der vorliegende Entwurf beinhaltet nur geringfügige Veränderungen am Gelände als solchem, jedoch gewaltige Veränderungen des Informationsgehaltes. Die Geschichte wird auf dem Gelände viermal erzählt. Zum einen durch Wort und Bild in dem bereits vorhandenen Bau „Topographie des Terrors“. Zum zweiten durch das Nennen und Aussprechen von Namen. Zum dritten durch das Wirken der Natur. Zum vierten werden diese Darstellungen - als Teil des Ortes und der Geschichte, jedoch unsichtbar - inhaltlich ausgefüllt durch das Vorhandensein umfassenden Informationsmaterials, das in dreierlei Weise genutzt werden kann: von der Wissenschaft, von der Öffentlichkeit und als inhaltliche Erweiterung der eigentlichen Gedenkstätte.

Das Nennen, Aussprechen und Zurückgeben von Namen

Dieser Ort ist durchdrungen von der Erinnerung an den Tod, auch wenn das Sterben sich zumeist an anderen Orten ereignete. Der Prozeß der Entmenschlichung begann damit, daß jedem einzelnen der Name genommen und durch eine Nummer ersetzt wurde; daher muß ein Gedenken als erstes den Namen wieder an die Stelle der Nummer setzen. Es gibt aber kein Mahnmal, welches die Millionen von Namen darstellen und zudem weitere hinzufügen könnte. Wir schlagen eine neue Form des Gedenkens vor. In einem kleinen Haus, das dem benachbarten Gebäude „Topographie des Terrors“ gleicht, wird ein Ensemble von Videogeräten installiert. Die Geräte werden mit Programmbändern versehen und so eingestellt, daß auf den Bildschirmen die Namen der Opfer, Angaben zu ihrem Lebenslauf und andere bekannte und belangvolle Einzelheiten erscheinen. Die einzelnen Namen werden in der Muttersprache des Betreffenden gesprochen, einer nach dem anderen, so daß innerhalb einer bestimmten Zeit alle Namen genannt werden.

Für das Gedenken an all jene, deren Namen nicht auffindbar sind und deren Tod nirgends verzeichnet ist, müssen andere Formen entwickelt werden. Wie bei allen informationsbezogenen Elementen auf dem Gelände würden Korrekturen und Änderungen durchgeführt, wann immer neue Fakten bekannt werden.

Verfügbarkeit umfassenden Informationsmaterials

Dieser Ort wirft unaufhörlich Fragen auf. Wird hier auch das „Was“ und „Wann“ teilweise bereits dargestellt, so bleibt doch das „Warum“. Es bleibt im Dunkeln, wie die Mechanismen des staatlichen Terrors im Wechsel Opfer und Helden, Märtyrer und Täter, willige und widerwillige Komplizen schaffen konnten; wie sie die rechtlichen, ethnischen, religiösen und sozialen Codes der Zivilisation, der dieser Terror entsprang, so schnell verkehren konnten; wie sie im In- und Ausland so schnell wirtschaftliche und politische Unterstützung für sich gewinnen konnten.

Umfängliche und aufschlußreiche wissenschaftliche Arbeiten liegen bereits in großer Zahl und in vielen Sprachen vor; sie müssen jedoch zusammengefügt, allgemein verständlich gemacht und vertieft werden. Zu diesem Zweck muß eine gemeinsame Datenbank erarbeitet werden, in der sämtliche derzeit oder in Zukunft verfügbaren Archivinformationen eingegeben werden.

Auf diesem Gelände steht aber auch ein Gebäude, das gewissermaßen unsichtbar ist, da es kaum je mit dem Terror in Verbindung gebracht wird, obwohl es von ihm benutzt wurde. Es ist das Europahaus, in dem das Fernsprechamt untergebracht ist; das Gebäude gehört der Öffentlichen Hand. In den Jahren des Terrors wurde es von der Abteilung genutzt, welche die Lager organisierte, deren Insassen „durch Arbeit vernichtet“ wurden. Wir schlagen vor, einen Teil des Gebäudes - des einzigen von allen Gebäuden dieser Verwaltung, das stehen geblieben ist - umzubauen und darin einen Großrechner unterzubringen, der alles Material, das über die Ereignisse an diesem Ort Aufschluß gibt, speichern, verarbeiten und zugänglich machen kann. Diese neue Datenbank besäße ein breites Nutzungsspektrum, das über die zu erwartende Erweiterung der Forschungskapazität der in dieser Stadt bereits bestehenden Institutionen hinausginge. Zugleich schüfe sie eine solide Informationsgrundlage, auf der künftige Generationen im Umgang mit der Geschichte aufbauen könnten. Sie böte die Voraussetzungen, die Gedenkstätte in der Zukunft fortzuführen, sie auszubauen und ihre Aussage weiter zu verdeutlichen. Wir halten es für einen glücklichen Umstand, daß in diesem Gebäude das Fernsprechamt untergebracht ist, da auf diese Weise ein Teil der technischen Grundeinrichtung bereits vorhanden sein dürfte.

Das Wirken der Natur: Trümmerflora und Pioniergehölze

Die Argumente für eine Umwandlung des Geländes in eine Gedenkstätte liegen auf der Hand. Es gibt jedoch keine brauchbaren Vorbilder für einen architektonischen oder skulpturalen landschaftlichen Ausdruck, der ein gefühl von Wunde und Schmerz vermitteln und dabei das Gelände erhalten könnte. Jedes „Mehr“ wäre weniger. Was bleibt, ist, die Kräfte der Natur ihr Werk vollbringen und ihre Geschichte erzählen zu lassen. Für die Natur ist die Bombe wie ein Pflug, der Gebautes niederreißt und mit der Erde vermischt; der die vor langer oder kurzer Zeit verschütteten Samen an die Oberfläche bringt. Es entsteht eine neue „Schutterde“ und mit ihr eine neue „natürliche“ Umwelt. Die Trümmerflora ist der erste Schorf, ihre erste Blüte, das erste Bedecken der Wunde, die die Bomben schlugen. Die Gebäude, die früher auf diesem Gelände standen und die Verwaltung des Schreckens beherbergten, wurden in Schutt gelegt, zertrümmert - doch ihre Grundmauern bleiben, einige sogar sichtbar. Ihre Umrisse sind in dem Gebäude „Topographie des Terrors“ ausgestellt und auf dem Gelände gut markiert.

Wenn die vorhandenen Schutthaufen vermischt und auf den Standorten der ehemaligen Gebäude so verteilt werden, daß sie deren Umrisse nachzeichnen - wobei die Grundrisse um etwa 30 Zentimeter angehoben, die wenigen bereits freigelegten Grundmauern jedoch unberührt gelassen werden, dann würde innerhalb von vier bis fünf Jahren die Trümmerflora bis zu einer Höhe von fast zwei Metern wachsen und jedem Standort lebendige Substanz verleihen. Dann würde ein Trümmerfeld-Denkmal Gestalt annehmen, in dem Trümmer und Schutt für den Zerfall und die Kompostierung eines Systems der Zerstörung stehen, und die Blumen wären ein lebendes Denkmal für das Leben jener, deren Ende diejenigen planten, die hier arbeiteten.

Danach - wenn die Beschilderung der Topographie verbessert und erweitert und der Parkplatz entfernt und dafür gesorgt würde, daß der erste Baumwuchs ungehindert den Parkplatz überwuchern kann, so daß ein Wald auf den Trümmern entsteht, wenn mittels gärtnerischer Pflege die Trümmerflora, sobald sie voll entwickelt ist, in diesem Zustand erhalten und die Flächen unter den Baumkronen und um die Trümmerflora-Stätten herum gemäht und in parkähnlichem Zustand gehalten würden, dann würde das gesamte Gelände, obgleich geringfügig verändert, zu einer öffentlich zugänglichen, durch das Wirken der Natur einleuchtenden und historisch begreifbaren Stätte des Gedenkens, die sich auf das bezieht, was hier geschehen ist. Übersetzung Miriam Walter

Das hier vorgestellte Projekt ist Teil der Ausstellung „Gedenken und Denkmal, Entwürfe zur Erinnerung an die Deportation und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Berlins“, die anläßlich des 50. Jahrestags der Pogrome vom 9. November 1938 in der Berlinischen Galerie/Gropiusbau stattfindet. Eröffnung am kommenden Donnerstag. Die Harrisons arbeiten seit 1971 zusammen an ökologischen, sozialen Kunstenvironments und lehren an der San Diego Universität in Kalifornien.

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