: Die geheimen Pläne der Nato
Nato-Herbsttagung: Außer der laufenden Modernisierung auch neue seegestützte Cruise ■ Aus Scheveningen A.Zumach
Die Nato will neue seegestützte Cruise missiles sowie ballistische Raketen anschaffen - neben der bereits 1983 im kanadischen Montebello beschlossenen und seitdem planmäßig vorangetriebenen Aufrüstung mit neuen atomaren Mittelstreckenraketen und flugzeuggestützten „Abstandswaffen“. Das geht aus einem geheimen Bericht zur „Rekonstruierung der Nuklearstreitkräfte“ hervor, den die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der Nato auf ihrer diesjährigen Herbsttagung am Freitag im niederländischen Seebad Scheveningen verabschiedete. Erarbeitet hatte den Bericht die „High-Level-Group“ der Allianz, in der führende Militärs aus allen Mitgliedsstaaten vertreten sind. Notwendigkeit, Umgang und günstiger Zeitpunkt für die „Modernisierung“ der insgesamt 88 in der Bundesrepublik stationierten Lance-Atomraketen sind in der Allianz wie innerhalb der Bonner Koalition nach wie vor umstritten.
Auf die Frage nach den vorgesehenen Zielen für neue seegestützte Cruise Missiles und ballistische Raketen behauptete Bundesminister Scholz auf einer Pressekonferenz am Rande der Tagung, diese seien „nicht Gegenstand“ des Berichts. Darüber seien „keine Aussagen enthalten“. Laut Bericht, der der taz in Auszügen vorliegt, „begrüßten“ Scholz und seine Verteidigungsminister-Kollegen jedoch ausdrücklich „den kontinuierlichen Fortschritt der Nato -Militärstäbe und der USA bei der Entwicklung von operativen Konzepten für den selektiven Einsatz von seegestützten Cruise Missiles und ballistischen Raketen“. Darüberhinaus „ermutigen die Minister die Nato-Mitgliedsstaaten, Möglichkeiten zur Stationierung zusätzlicher weitreichender, doppelverwendungsfähiger (d.h. wahlweise mit atomaren oder konventionellen Waffen ausgrüsteter) Flugzeuge aktiv zu verfolgen“.
US-Verteidigungsminister Carlucci erklärte in diesem Zusammenhang auf der Abschlußkonferenz, eine Bestückung von in Westeuropa stationierten Flugzeugen mit neuen atomaren „Abstandswaffen“ werde die USA auch ohne NATO-Beschluß durchführen. Er bestätigte erstmals, daß die USA „taktisch“ bezeichnete „Abstandswaffen“ mit einer Reichweite von 1.500 Kilometern entwickelten - ausreichend, um von Westeuropa und anderen Standorten aus tief in das Gebiet der UdSSR zu treffen.
Der kombinierte Einsatz dieser neuen see- und luftgestützten Waffen erlaube der Nato „neue Kriegsführungsoptionen sowohl gegenüber dem Warschauer Pakt wie anderen Regionen der Welt“, stellten Rüstungsforscher und VertreterInnen von Friedensorganisationen aus Westeuropa ... Fortsetzung auf Seite 6
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und den USA vor der Presse in Scheveningen fest. Die Nato -Planungen seien „ein Dolchstoß für die Rüstungskontrollverhandlungen in Wien und Genf“. Diese Sorge plagte auch die belgische Regierung, die als einzige Vorbehalte gegen die Verabschiedung des Berichts zum jetzigen Zeitpunkt anmeldete. Minister Scholz tat die belgischen Bedenken, die der Position von Außenminister Genscher in der „Modernisierungs„-Frage ähneln, als „Sturm im Wasserglas“ ab. Nachdem ihn einige seiner Verbündeten insbesondere US-Minister Frank Carlucci - im Plenum der NPG wie in bilateralen Gesprächen ins Gebet genommen hatten, verzichtete Minister Coeme schließlich auf einen formalen Einspruch gegen den Bericht oder eine Fußnote im Abschlußkommunique der NPG-Tagung. Der NPG-Bericht liefert auch eine offizielle Bestätigung dafür, daß als „Nachfolge für die Lance-Raketen“ nur noch das Armee-Taktische Raketensystem (ATACMS) der USA in Frage kommt.
Es bedarf nun eines offiziellen Beschlusses der Nato für die Einführung dieses Systems, damit der US-Kongreß die Haushaltsmittel für die Serienproduktion freigibt. Nato -Generalsekretär Wörner - im Verein mit Großbritannien und den USA - drängt auf eine Entscheidung 1989. Das sei dann kein Thema für den Bundestagswahlkampf 1990 mehr. Ähnlich habe er als Bundesverteidigungsminister vor der Wahl 1987 die unpopuläre Verlängerung der Wehrpflicht in der CDU/CSU -Fraktion durchgesetzt - ohne politischen Schaden für die Kohlregierung. Kohl und Genscher wollen eine Entscheidung 1991, nach der Wahl. Noch weiter geht der Vorsitzende des Nato-Militärausschusses und ranghöchste bundesdeutsche Militärvertreter im Brüssler Hauptquartier General Altenburg: Mit vergleichsweise geringem finanziellen Aufwand ließen sich die angeblich 1995 nicht mehr verwendbaren Lance -Raketen bis 1998 einsatzfähig halten. Überlegungen gibt es in Bonner Regierungskreisen: Nach taz-Informationen wurde mit einer schottischen Firma ein Vertrag abgeschlossen zur Überholung der Lance-Motoren. Auf diese Weise könnten die 88 Lance-Raketen in der Bundesrepublik weitere zehn bis 15 Jahre einsatzfähig gehalten werden. Allerdings „nur“ mit der bisherigen Reichweite von 130 Kilometern.
Uneinigkeit gibt es auch in der Frage, ob nach entsprechenden Fortschritten bei den Wiener Rüstungskontrollverhandlungen über konventionelle Waffen Mitte der neunziger Jahre nicht völlig auf atomare Kurzstreckenraketen und damit auf eine „Modernisierung“ verzichtet werden kann. Während Genscher und Altenburg ein solches Szenario nicht ausschließen, beharrt die Hardthöhe und auch Bundeskanzler Kohl auf der Beibehaltung eines Potentials bodengestützer atomarer Kurzstreckenraketen. „Keine dritte Null-Lösung“, lautet die Formel, selbst für den Fall, daß die UdSSR ihre 1.365 Kurzstreckensysteme ersatzlos verschrotten. Einer Antwort des niederländischen Verteidigungsministers Bolkenstein auf die Frage, ob ein solches Szenario „völlig auszuschließen“ sei, kam Generalsekretär Wörner auf der Abschlußpressekonferenz mit der Belehrung zuvor, es gebe keinerlei Anlaß für derarige „Planspiele“.
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