: Das HIV-Modell als Mogelpackung?
Hearing der Aids-Enquete-Kommission zum Umgang mit Infizierten / Neues HIV-Modell ist heftig umstritten / 50 Schwerpunktpraxen sollen 2.000 HIV-Infizierte als Modell-Versuch betreuen / Die inneren Konflikte der Berater und Helfer waren kein Thema bei der Anhörung ■ Von Andreas Salmen
Bonn (taz) - Es war eine Anhärung über und nicht mit den Betroffenen, als sich die Enquetekommission Aids des Bundestages vergangene Woche über die Situation der HIV -Infizierten und deren „Beratung, Betreuung und Versorgung“ informierte. Jedenfalls widersprch niemand im Saal 1903 des Langen Eugen einem der geladenen Experten, der feststellte: „Ich gehe mal davon aus, daß hier im Raum niemand persönlich betroffen ist.“ Erstaunlich war der ruhige Verlauf der Hearings der Kommission, deren Mitglieder von Vertretern der Aids-Hilfen bis hin zu bayerischen Hardlinern reichten. Der große Konflikt blieb aus, obwohl der Umgang mit Infizierten oder HIV-Antikörperpostitiv-Getesteten eines der heißesten Themen der gegewärtigen Aids-Debatte ist. Aber das in den letzten Monaten immer beliebter gewordene Konstrukt des „Desperados“ oder „Unbelehrbaren“ spielte keine Rolle. Gemeint sind damit angeblich durchs Land ziehende HIV -Infizierte, die im Wissen um ihre Infektion andere Menschen rücksichtslos infizieren. Materialisierte Angaben dieses Konstrukts sind die in den letzten Monaten in Bayern abgeurteilte Münchner Prostituierte Sonja oder der Amerikaner Linwood B., dem in Nürnberg der Prozeß gemacht wurde. Diese Versuche, HIV-Positive als gemeingefährliche Subjekte darzustellen, kam nur nebulös als „zu verbessernde gesamtgesellschaftliche Lage“ in den Ausführungen einiger Experten der Aids-Hilfe zur Sprache.
Doch hier und da schien der eigentliche Konflikt durch. Als der Frankfurter Drogenberater Walter Kindermann seine inneren Konflikte auf den Tisch packte und fragte, wie er sich denn verhalten solle, wenn er von einem HIV-Infizierten Drogengebraucher wisse, der seine Freundin weder informiere noch schütze. Soll er die Betroffene in Kenntnis setzen oder soll er sich an die Schweigepflicht halten. Der Rechtsaußen der Enquete, der CSU-Abgeordnete Geis, war hier mit schnellem Rat zu Stelle: „Brechen Sie Ihre Schweigepflicht, Herr Kindermann!“ Der dem liberalen Flügel der Enquete zugehörige Bundesanwalt Manfred Bruns wollte hingegen einen solchen Bruch nur als letztes Mittel verstanden wissen. Der Heidelberger Psychologe Ulrich Clement, als Sachverständiger geladen, vertrat schließlich die Auffassung, ein solches Problem müsse in der Beratungssituation mit dem HIV -Positiven gelöst werden: „Wir können hier sofort wieder einpacken, wenn wir meinen, das Erfahren eines stattgefundenen ungeschützten Sexualverkehrs berechtige zum Auflösen des Arbeitsbündnisses mit dem HIV-Positiven, weil die Rechtslage es erfordert.“
Im Mittelpunkt der Anhörung standen die sogenannten HIV -Modelle, insbesondere das Frankfurter Pilotprojekt. Im Oktober 1987 hatte der Bundesdrogenbeauftragte und Ministerialdirigent im bundesgesundheitsministerium Manfred Franke diese Modelle vorgeschlagen. Sein Minsterium fördert ihren Ausbau mit Millionenmitteln - während gleichzeitig Projekte im Bereich der Aufklärung zusammengestrichen oder erst gar nicht bewilligt werden, wie das Kölner Stopp-Aids -Projekt (s. taz 6.7.88). In fünf Modellregionen sollen bis zu 2.000 HIV-Infizierte in rund 50 Schwerpunktpraxen zusammengefaßt werden. Gefunden werden die Positiven, indem über niedergelassene Ärzte Patienten zum Testen angehalten werden.
So „gefischte“ Infizierte sollen dann an eine der Schwerpunktpraxen überwiesen werden, von der sie im Dreimonatsabstand bestellt werden. Diese ermittelt dann die Laborwerte zur Beobachtung des Infektionsverlaufs bei einem großen Patientenkollektiv. Zugleich sollen die Positiven angeleitet werden, „eigenes Fehlverhalten“ aufzugeben. Schließlich werden sie informiert, daß sie sich durch ungeschützten Sexualverkehr mit einem Partner strafbar machen. Attraktiv soll das Programm für die Betroffenen durch das Versprechen der Lebensverlängerung mittels „diätischer Lebensführung“ sein, was meint: ausreichend Schlaf, sportliche Betätigung und gesunde Ernährung. Dies wird aber nicht als ohnehin sinnvolle Lebensführung verkauft, sondern als ärztlich verordnete „Therapie“. Derartige HIV-Modelle arbeiten seit Dezember in Frankfurt und seit Januar in Köln/Bonn. In Hamburg/Bremen ist die Errichtung eines vergleichbaren Projekts am Widerstand der Selbsthilfegruppen gescheitert, in Berlin versucht der Bund zur Zeit vorbei am Senat ein solches Modell durchzusetzen.
Als Uli Meurer, Positivenreferent der Berliner Aids-Hilfe, das Konzept als „Mogelpackung“ bezeichnete, brandete Unmut auf. Insbesondere Helga Rübsamen-Waigmann, Leiterin des Georg-Speyer-Hauses, dem organisierenden Kerns des Frankfurter Modells, fühlte sich provoziert. Frau Rübsamen -Waigmann, die mittlerweile an 500 PatientInnnen forscht, begründete das HIV-Modell mit der Notwendigkeit, Interventionsmöglichkeiten in den Verlauf der Infektion zu finden. Insbesondere frühe Folgeerkrankungen der Infektion, die sogenannten Opportunistischen Infektionen, ließen sich bei frühzeitiger Diagnose und Behandlung gut überstehen. Andere Mediziner widersprachen hier entschieden. Der Berliner Arzt Heinz Harald Abholz wies darauf hin, daß derartige Folgeerkrankungen nicht im Dreimonatsrythmus zu diagnostizieren seien, dann müsse man den Positiven in noch viel kürzeren Abständen einbestellen. Es sei daher eher sinnvoll, die betroffenen Gruppen zu informieren, Erkrankungen nicht zu verschleppen, sondern gleich den eigenen Arzt aufzusuchen. Vertreter der Aids-Hilfen wiesen insbesonsere auf ungelöste Datenschutzprobleme in den HIV -Modellen hin und kehrten den für den Infizierten destabilisierenden Charakter hervor, den eine Dreimonatsmitteilung seiner Laborwerte haben kann. Schließlich konnte man sich nicht des Eindrucks erwehren, die HIV-Modelle seien eine Fortsetzung der Aids-politischen Linie des Frankfurter Professors Wolfgang Stille („Testen! Testen! Testen!“) mit anderen Mitteln.
Der Berliner Soziologe Rolf Rosenbrock, wie Stille Mitglied der Enquete, wies penetrant darauf hin, daß es unverantwortlich sei, mit einem massenhaften Gebrauch des Antikörpertests Positive zu schaffen, denen man dann aber nicht helfen könne. „Daß Sie das HIV-Modell unterstützen, Herr Stille“, trat er dem Kollegen gegen das Schienbein, „wundert mich nicht, denn Sie propagieren ja alles, was nur die Zahl der Tests maximiert.“
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