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Kuropaty

■ Eine Tragödie, von der alle wissen müssen – bekanntgemacht in 'Moskau news', November 1988

Senon Posnjak

Anfang 1937 entdeckte der Förster Karol Konowitsch in seinem Wald merkwürdige Dinge: Jemand hatte Gruben ausgehoben, wieder zugeschüttet und mit inzwischen schon verdorrten Kiefern bepflanzt. Dicht dabei hing an einem Baum ein offenbar vergessener Bauernbeutel, darin Brot, Wurst... Der Förster lief zum Dorfsowjet, um die „entsprechende Stelle“ anzurufen. Dies und jenes habe er... Aus dem Hörer kam es messerscharf: „Laß das Schnüffeln, wenn dir dein Leben lieb ist.“ Förster Konowitsch hatte kapiert. Wenig später stand in diesem Wald dann ein über drei Meter hoher, mit Stacheldraht überspannter Bretterzaun, hinter dem Tag und Nacht, Sommer wie Winter Schüsse peitschten, Schreie, Flüche, Jammern und Ächzen ertönten, Hunde kläfften und Motoren dröhnten. So entstand unweit von Minsk diese grauenhafte Stelle (10-15 Hektar), die gewöhnlich „Untiefe“ oder auf belorussisch „Kuropaty“ genannt wurde. Ein Ort täglicher Massenerschießungen, ein „Schlachthof“, der von 1937 bis zum Juni 1941 bestand. Solche „Menschenschlachthöfe“ gab es auch in der Nähe anderer Großstädte Belorußlands. Augenzeugen geben an, daß allein in Minsk und Umgebung – bisher – fünf Hinrichtungsstätten aus der Zeit der Stalinschen Repressionen ausgemacht wurden. Die Spuren verwischt

Im Umkreis von Kuropaty lagen in 1,5 bis 2,5 Kilometern Entfernung die Dörfer Zna-Jodkowa, Drosdowo, Seljony Lug, Selenowka und ein paar Vorwerke. In den siebziger Jahren bekamen mein Kollege Jewgeni Schmygaljow und ich mehrmals von alten Leuten aus diesen Dörfern Einzelheiten über die Mordtaten zu hören. Ihr bäuerliches Leben war begleitet von Todesschreien und dem Krachen von Schüssen. Wenn sie Korn säten oder Kartoffeln setzten, versuchten sie manchmal, die Toten zu zählen: ein Schuß – ein Mensch. „Das ganze Dorf zitterte vor Angst. Fünf Jahre lang bekamen wir wegen der Schießerei kein Auge zu“, sagt Roman Bazjan, Geburtsjahr 1913, aus dem Dorf Zna.

1987/88 stellten Schmygaljow und ich unter Dutzenden Zeugen (inzwschen wurden rund 170 ausfindig gemacht) systematische Nachforschungen an und nahmen Erkundungsgrabungen in Kuropaty vor. Die Ergebnisse veröffentlichten wir am 3.Juni in der belorussischen Literaturzeitung 'Literatura i Mastaztwa'. Lassen Sie mich die wichtigsten Fakten und Schlüsse unserer Untersuchungen knapp zusammenfassen.

Die Exekutionen erfolgten an jedem Nachmittag, gegen Abend und die ganze Nacht über. Die Opfer wurden in geschlossenen Kraftwagen antransportiert, aus Revolvern gruppenweise niedergestreckt und in tiefe Gruben geworfen. Die Mörder trugen die Uniform des NKWD (Volkskommissariat des Innern). Wenn sie eine Partie vernichtet hatten, schippten sie etwas Sand über die Leichen und führten die nächste Gruppe heran, bis die Grube randvoll war.

Die Nachforschungen und Grabungen ergaben, daß alle Grabstätten von Kuropaty in den vierziger Jahren, bereits nach Kriegsende, exhumiert worden waren. Manche Zeugen sagten, dort hätten Soldaten „gebuddelt“. Wer hatte es nötig, die Leichen heimlich und schnell auszugraben? Wo sind sie geblieben? Wer hat die Spuren verwischt?, fragten wir in unserem Artikel. Die Spuren zu verwischen war übrigens nicht gelungen. Wie sich bei den Grabungen herausstellte, war die Exhumierung unvollständig erfolgt. In den bis zu drei Meter tiefen Gruben gab es noch sterbliche Überreste von Exekutierten: mehrere Dutzend durchschossene Schädel, Leder und Gummischuhe sowjetischer Herkunft (eingeprägte Jahreszahl 1937, 1938), Hülsen eines sowjetischen Revolvers, Knöpfe, Geldbörsen mit sowjetischen Münzen aus den dreißiger Jahren, Brillen, Porzellan- und Emaillebecher, eine Zahnbürste mit Witebsker Fabrikmarke und vieles andere. Untersuchung eingeleitet

Der Veröffentlichung hatten sich zunächst, wie man heute sagt, „Bremskräfte“ entgegengestellt. Die Redaktion war dem Druck jedoch nicht gewichen. Zwar etwas gekürzt, brachte die Literaturzeitung den Artikel.

Zwei Wochen nach seinem Erscheinen wurde eine Regierungskommission zur „Untersuchung der im Artikel dargelegten Fakten“ gebildet. Und das Geschichtsinstitut der Akademie für Wissenschaften der Belorussischen SSR erhielt folgendes Schreiben: „Die Staatsanwaltschaft der Belorussischen SSR untersucht den Straffall, erhoben aufgrund der Auffindung einer Grabstätte im Waldmassiv auf dem Territorium des Dorfsowjets Borowljansk, Rayon Minsk. Zwecks Feststellung der Umstände der Bestattungen ist die Exhumierung der sterblichen Überreste erforderlich. Daher ersuchen wir, ausgehend von Paragraph 44 des Strafgesetzbuches der Belorussischen SSR, um Unterstützung. Zur Beteiligung an der selektionsweisen Exhumierung bitten wir, einen archäologischen Sachverständigen des Instituts zur Verfügung zu stellen.“

An den Grabungen (durchgeführt vom 6. bis zum 15.Juli) nahmen teil: eine Ermittlungsgruppe der Staatsanwaltschaft und als Ausgrabungssachverständige des Geschichtsinstituts meine Kollegen N. Kriwalzewitsch, O. Jow und ich. Wir haben sieben Grabungen und eine Schürfung in der Tiefe von maximal 2,75 Metern auf einer Gesamtfläche von 44 Quadratmetern vorgenommen.

Die Untersuchungen erfolgten in Anwesenheit von Zeugen; es wurden Protokolle, Tagebücher geführt, Messungen durchgeführt, Fotos und Videoaufzeichnungen gemacht. Den Erhebungen wohnten verschiedene Gruppen von Dokumentarfilmern, Fernsehleute und Pressevertreter sowie einige Mitglieder der Regierungskommission bei. Nach Abschluß der Außenarbeiten wurden Analysen angestellt und wissenschaftliche Daten koordiniert, Zeichnugen (genaue Ortskarten der Grabungen usw.) angeferigt, ein Gutachten sowie ein wissenschaftlicher Bericht über die Grabungen erstellt, der auf einer Vollversammlung der Abteilung Archäologie diskutiert, gebilligt und bestätigt wurde. Ein Exemplar des Berichts wurde der Staatsanwaltschaft der Belorussischen SSR zugeleitet. Die Beweise

An fast allen vorgelegten Schädeln (312) wurden durch Kugeln hervorgerufene Einschüsse festgestellt, gewöhnlich im Genick, häufig je zwei oder sogar drei Einschußstellen. Außerdem Seiten- und Rückenschüsse an der Schädelbasis. Manche der Opfer haben sich vielleicht zur Wehr gesetzt, dann wurde wahllos geschossen (hier zeigen sich eventuell auch unterschiedliche „Schußweisen“ der Mörder).

Einer der Zeugen, der damals bereits 18jährige Einwohner von Zna Mikolai Wassiljewitsch Karpowitsch (Geburtsjahr 1919), hatte etwas Extremes wahrgenommen. Geschossen wurde aus Gewehren; die Exekutionen erfolgten ebenfalls gruppenweise, jedoch nicht mit Genickschüssen. Die Opfer wurden in einer Front vor der Grube aufgestellt, jeder bekam einen Pfropfen in den Mund, der mit einem Lappen zugebunden wurde. Dann wurde aus dem Gewehr auf den Kopf der Person „an der Flanke“ so geschossen, daß die Kugel zwei Menschen zugleich durchbohrte. „Wenn sie schossen“, sagte der Zeuge, „fielen gleich zwei auf einmal in die Grube. Sie sparten Patronen.“ Dabei handelte es sich um eine Art Bravourstückchen, Profileistung...

Vorgefunden wuden rund 200 Hülsen des sowjetischen Revolvers vom Typ „Nagan“ und eine von einer „TT“-Pistole, ferner Dutzende Kugeln, davon einige in den Schädeln. Die Durchmesser der Revolverhülsen und Kugeln stimmen mit den Einschußstellen in den Schädeln überein.

Die meisten Schädel weisen an der Stirnseite, an der Schläfe oder darüber gezackte Löcher von fünf bis sechs Zentimetern Durchmesser und mehr auf. Diese Austrittsstellen der Kugeln bilden den Beweis dafür, daß der Revolver nicht direkt am Genick angesetzt wurde. Bewohner umliegender Dörfer berichteten, an Samstagen seien häufig Personen in NKWD-Uniform gegen elf Uhr abends (offenbar nach der Wachablösung) aus dem Wald beim Dorftanz aufgetaucht.

Was mich bei den Grabungen am stärksten erschütterte, war die große Anzahl getöteter Frauen. Weibliche Schädel und Kleidungsstücke wurden in allen Grabstätten gefunden. Wie viele waren es?

Es gelang, die Landstriche und die Reihenfolge der Exekutionen in Kuropaty zu eruieren. Die Erschießungen begannen im östlichen Raum. Die Massengräber können hier auf die Jahre 1937 bis 1938 datiert werden. Bei den Grabungen wurden Gegenstände ausschließlich sowjetischer Herkunft, selbstgefertigtes und handwerklich hergestelltes Schuhwerk, wenig Accessoires gefunden. Alles deutet darauf hin, daß hier in erster Linie Einheimische begraben sind. Das bestätigen Briefe, die ich von Mikolai Assonowitsch Rymarjew (Geburtsjahr 1927) aus Bobruisk erhielt, in denen er versucht, die Namen von Hunderten seiner Mitbewohner zu nennen, die in jenen vier Jahren ums Leben kamen. Anfang der dreißiger Jahre besaß sein Dorf Seliwonowka 120 Gehöfte und über 800 Einwohner. Anfang der vierziger Jahre, vor Kriegsausbruch, gab es dort nur noch 30 Gehöfte. Die gesamte Bevölkerung wurde von nur wenigen Personen terrorisiert: von Kolchosvorsitzenden, dem Vorsitzenden des Dorfsowjets, einem Brigadier und ein paar ihrer Handlanger. Die Sache war die, daß dem jeweiligen Denunzianten für jeden gemeldeten „Feind“ sofort eine bestimmte Summe aus einem Sonderfonds des NKWD ausgezahlt wurde (nach dem heutigen Kurs etwa 15 Rubel pro Person). Wenn sie wieder jemanden ans Messer geliefert hatten, veranstalteten die Judas von Seliwonowka Trinkgelage und verfaßten sogar ein Lied über ihre „Heldentaten“, das sie bei Saufereien gröhlten.

Die meisten Opfer waren einfache Leute. Das Massengrab Nr.1 wurde vermutlich im Winter angelegt. Dort fanden sich viele warme Kleidungsstücke aus Leder (bäuerliche Lederjoppen, Überreste von Filzstiefeln, Schaftstiefel und dergleichen).

Weiter östlich und südöstlich befanden sich Grabstätten aus den Jahren 1939 und danach. Sie enthalten vorwiegend Menschen aus West-Belorußland. In der Grabungsstelle Nr.5 wurden vor allem Gebrauchsgegenstände von Intellektuellen gefunden (viele Accessoires, Brillen, Monokel, Kneifer, Medikamente usw.), Schuhwerk von hoher Güte (Fabrikware oder Modellanfertigung), Damenstiefel mit hohem Absatz, Handschuhe.

Anhand der in den Massengräbern entdeckten Gegenstände und daran, daß ein Teil der Sachen (Bekleidung, Schuhwerk) zusammengelegt war, sowie an aufgefundenen Eßwaren, Geldbörsen usw. wird erkennbar, daß die Menschen ihr Heim erst kurz vor dem Tode verlassen und vor ihrer Hinrichtung nicht in Gefängnissen gesessen haben dürften. Das legt den Gedanken nahe, daß sie ohne Gerichtsverfahren, wie man damals sagte, „liquidiert“ wurden.

Nach Begutachtung aller Belege läßt sich in etwa die ursprüngliche (bis zur in den vierziger Jahren erfolgten Exhumierung) Anzahl der in den untersuchten Massengräbern Bestatteten bestimmen. Vermutet man im Durchschnitt 200 Leichen pro Massengrab und multipliziert diese Zahl mit der der bis heute eruierten Grabstätten (510), ergibt das 102.000. Die tatsächliche Anzahl der Opfer aber liegt wahrscheinlich höher.

Außerdem wurden rund 100 (wenn nicht mehr) Grabsenken während der Verlegung der Erdgasleitung und der dort erfolgten Waldrodung von März bis Mai 1988 aufgeschüttet und von Bulldozern eingeebnet. Viele Gräber verschwanden, als an der Wende der fünfziger zu den sechziger Jahren der Autobahnring angelegt wurde, und eventuell auch bei Rodungs und Aufforstungsarbeiten in den vierziger Jahren. Unberücksichtigt blieben Grabstätten südlich des Autobahnrings, also am Südrand des Exekutionsgeländes.

Wenn du die Berichte der Augenzeugen dieser blutigen Phantasmagorien hörst, wenn du mit eigenen Augen die Beweise siehst, während du in der mit Leichen gefüllten Grube stehst, wenn du zwischen den Skeletten den aus der Kindheit vertrauten Hausrat erkennst oder ebenso vertraute Galoschen, wie sie die Mutter einst trug, wenn du unter den durchbohrten Schädeln langes, flachsfarbenes Frauenhaar hervorziehst, wie es jene trug, der du heute früh begegnetest, wenn du all das siehst und den Verwesungsgeruch im grünenden, von Vogelgesang erfüllten Wald atmest (von der seelischen Qual will ich gar nicht erst reden), wenn du all das vor Augen hast, dann bleiben dir die Worte in der Kehle stecken. Dir schaudert...

Lassen Sie mich zum Abschluß zwei Gedanken äußern, die mir bei diesen Aufzeichnungen kamen. Der erste: Niemandem wird es mehr gelingen, die Wahrheit über Kuropaty zu vertuschen. Der zweite und wichtigere: Jeder an ständige Mensch sollte den Stalinismus, diese widerwärtige, verlogene, bestialische und volksfeindliche Erscheinung, bekämpfen.

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