SÜSSER INFANTILISMUS

 ■  Warum sind so viele US-Amerikaner so dick ?

Warum sind so viele US-Amerikaner so dick? Warum sind im hier wörtlich zu nehmenden - „Schmelztopf der Nationen“ noch mehr Menschen noch dicker als in anderen gefräßigen Ländern der Erde, unter ihnen vermutlich noch mehr Männer als Frauen? Falstaff jedenfalls hätte sich vor Kumpanen kaum zu retten gewußt. Und Julius Caesars Bedürfnis nach vertrauenerweckender Korpulenz wäre so extensiv befriedigt worden, daß ihn kein Dolch jemals hätte erreichen, geschweige denn durchbohren können.

Ganz ohne Frage trägt der Automobilismus der US -Gesellschaft in dieser Inflation von watschelnen Wänsten und Hintern, die selbst deutsche Stammtischpopulationen und Tortenkränzchen mühelos in den Schatten stellt, seine größe und reifste Frucht: Wenn die Selbstbewegung, abgesehen von den notorischen Gymnastikern, schlicht zum Undenkbaren geworden ist und die Marathondistanzen bei, sagen wir: 250 Meter beginnen, dann folgt auch die Körpernatur willig dem „horror vacui“, der Furcht vor dem leeren Raum, und füllt ihn zunehmend mit zunehmenden Bäuchen aus. Die Fahrertypen dominieren dabei erklärlicherweise, wohingegen die Frauen auf häuslich-patriarchalem Boden noch einem gewissen Bewegungszwang unterliegen.

Doch bei der automobilbedingten Fettleibigkeit handelt es sich ja um einen Mangel an Abarbeitung, während die unmittelbare Ursache, theologisch gesprochen: der erste Beweger all dieser Unbeweglichkeit in den Eß- und Trinkgewohnheiten der breiten Massen (über die kulinarischen Exklaven reden wir hier nicht) zu suchen ist: Gewohnheiten, die man keinesfalls mit dem notwendigen Geschäft der Ernährung verwechseln sollte.

Wahrscheinlich gibt es nur in wenigen Länden der Erde ein so reichhaltiges Obst- und Gemüseangebot; wahrscheinlich wird aber auch nur in wenigen so unglaublich viel Fleisch gegessen: Fleisch, das sich dann wieder auf das schlüssigste in Fleisch inkorporiert.

Das immer noch so genannte „Brot“ ist demgegenüber eine weitaus irritierendere Erscheinung. So weiß, als ob es aus der Spülmaschine käme, und so weich, daß es sich von Kinderhand mühelos auf ein Zehntel seines Verkaufsumfanges zusammendrücken läßt (das Guggenheim-Museum in New York beherbergt ein komprimiertes Exempel dieser Art), schlägt es doch im Körperinnern die umgekehrte Bewegungsrichtung ein und expandiert und expandiert und expandiert.

Unter solchen Umständen droht dann, wie übrigens auch bei den deliziösen Puter- und Hühnerbrüsten und den diversen Hamburgern, die eher maulsperrenden Wolkenkratzern ähneln, gelegentlich eine gewisse Trockenheit. Doch hier sorgen neben den reichich verfeuerten Fetten besonders die üppigen Mayonnaisen, die Ketchups für die notwenige Verflüssigung. Und was sich bis dahin noch nicht hat hinunterbewegen lassen, das wird mit Coke oder Pepsi oder einem lieblichen kalifornischen Rheinwein hinuntergespült, um zum seligen Ende noch ein Speiseeis abnormer Ausmaße draufgesetzt zu bekommen - was man natürlich auch ohne jeden Nahrungsanlaß zu sich nehmen kann.

Die eigentliche Palme unter all dem gebührt indessen jenem spezifischen Geschmack, jenem unwiderstehlichen „taste“, der schon in den TV-Commercials die Drüsen speicheln und die Lefzen triefen läßt: einer alles versüßenden Süße, die uns von McDonald's bis Burgerking und WaffleHouse und zurück Zunge, Gaumen und Herzen rührt. Kaum eine Speise, kaum ein Getränk, ja, kaum ein Gewürz, das nicht derart mit ihr angereichert wäre, daß ihr körperlicher Niederschlag in Bundweiten und Bauchformaten nur eine Frage der Zeit sein kann. Sollten hier aber noch Lücken offenbleiben, so werden sie geschlossen durch die reine Süßigkeit in unverdünnter Form, der nur die verschiedenen Farbstoffe den Schein der Vielfalt geben können.

Spätestens hier jedoch muß neben der Frage nach den Folgen auch die nach den Ursachen einsetzen. Und dabei fällt uns nur diese Erklärung ein: Ist es nicht so, daß Kindheit und die Vorliebe für das Süße zusammengehören? Gewinnt man nicht mit zunehmendem Erwachsenwerden Geschmack am Sauren und Trockenen; an jenen Qualitäten, die das geschmackliche Äquivalent der Distanznahme und der Abnabelung sind? Und fallen wir nicht vor allem dann, wenn wir uns hilfsbedürftig und einsam, unglücklich oder krank fühlen, auf die frühe Süße zurück?

Bevor wir jetzt allerdings zur Diagnose eines nationalen Küchencharakters fortschreiten, in dem sich die Vorliebe für das Süße und der psychische Infantilismus beziehungsweise die Neigung zur Regression miteinander verbinden, erinnern wir uns, daß auch die Gutmütigkeit vom Süß-Syndrom nicht zu trennen ist. Und so kehren wir erleichert, wiewohl schnaufend und schwitzend, zu unserem Ausgangspunkt zurück, wissend, was Shakespeares Caesar noch ordern mußte: „Laßt immer dickere Menschen um mich sein!“

Ludger Lütkehaus