: „Die Angst ist den Europäern geblieben“
Seit 1975 kämpfen die Kanaken um ihre Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht ■ Von Jean-Marie Tjibaou
Paris (taz) - Jean-Marie Tjibaou ist seit Gründung der sozialistischen kanakischen Befreiungsfront FLNKS 1984 deren Vorsitzender. Im Namen der FLNKS führte er die Verhandlungen mit der französischen Regierung, deren Ergebnis den Franzosen nunmehr in Form eines Gesetzes zur Volksabstimmung vorliegt. Jean-Marie Tjibaou ist Bürgermeister eines kleinen kanakischen Dorfes und bestellt dort seine Felder selbst. Von Paris aus beschreibt er kanakisch-französische Zeitgeschichte und schildert gleichzeitig den Weg zur heutigen Volksabstimmung.
1975 haben wir ein großes kanakisches Fest gefeiert. 2.000 Kanaken kamen. Das war sehr wichtig, weil wir Vertrauen in uns bekamen und uns das erste Mal im Fernsehen sahen. Früher, seit der Kolonialisierung 1853, sagten die Kanaken immer: Oui, Monsieur. Damals hatten wir, vielleicht das erste Mal, gemeinsam das Gefühl, es gäbe etwas, das nur uns gehört und uns niemand nehmen kann. Bald stellten wir erste Forderungen - nach unserem Land. Noch unter Giscard gestand man uns einige Konzessionen zu, doch bei den Caldoches (neukaledonischer Name für die dortigen französischen Siedler, d.Red.) regte sich Unmut. Die Spannung stieg.
1981 wählten wir dann die Sozialisten. Es gelang uns anschließend, mit einer Gruppe Caldoches eine Mehrheitsfraktion in der Territorialversammlung zu bilden. Wir stimmten das erste Mal für ein Budget und erhöhten damit die Steuern für die Reichen. Die Caldoches waren gar nicht zufrieden.
1984 sind wir dann zum zuständigen Minister Mitterrands gegangen. Wir haben ihm gesagt: Nun haben wir euch gewählt, jetzt macht ihr uns ein Inselstatut, das unsere Unabhängigkeit vorbereitet. Wir hatten nämlich schon vor der Wahl Mitterrands ein Memorandum mit Sozialisten und Kommunisten unterzeichnet, das uns die Unabhängigkeit garantierte. Der Minister erkannte unsere Forderungen noch an, die sozialistischen Abgeordneten im Parlament aber lehnten sie ab.
Danach haben wir entschieden: Schluß, aus, wir wählen nicht mehr. Wir organisieren den aktiven Boykott. Also bauten wir bei der nächsten Wahl - noch im Jahr 1984 - Straßensperren, es gab viele Aktionen und dann die Toten und die Gefangenen. Angst tauchte auf. Aber die Leute waren auch sehr wütend. Damals schon sind alle Weißen, Mestizen und andere Ausländer aus unserem Dorf abgehauen. Diese Angst von damals ist den Europäern bis heute geblieben. Sie war wichtig für das jetzige Abkommen, denn: Es mag gut sein, die Kanaken zu töten, aber was dann?
Nach den Ereignissen hat Mitterrand Pisani geschickt (den damaligen Sonderbeauftragten des Präsidenten für Neukaledonien, d.Red.). Wir haben 1985 das Pisani-Statut akzeptiert. Zum ersten Mal hatten wir Möglichkeit und Mittel, unsere eigene Kultur zu entwickeln, an der Schule oder in neuen Kulturzentren.
All das war am Tag der Wahl Chiracs vorbei(16.März 1986, bei den französischen Parlamentswahlen gewinnt die bürgerliche Rechte, d.Red.). Von da an ging alles kaputt. Die Kredite wurden gekündigt, Kanaken aus ihren Ämtern enthoben.
Wir sind vor Gericht gegangen, haben geklagt, doch das nützte gar nichts. Die Chirac-Regierung hat das Referendum von 1987 organisiert (nur in Neukaledonien, eine Mehrheit stimmte für den Verbleib der Insel in der Republik, d.Red.). Wir boykottierten wiederum die Wahl und organisierten gewaltfreie Aktionen. Jedes Sit-in und jede Demonstration wurde sofort von der Polizei zerschlagen. Wir wurden politisch vollkommen ignoriert. Man verlangte das Verbot der FLNKS.
Zu den französischen Präsidentschaftswahlen dieses Jahres wählten wir eine härtere Strategie. Unser Ziel war, mit der neuen Regierung ein anderes Kräfteverhältnis herzustellen. Es kamen sogar Leute von Mitterrand, die um unsere Hilfe für die Wahl baten. Wir haben ihnen gesagt: Wir machen Aktionen, aber wir wählen nicht.
Es kamen die Tage von Ouvea (Insel von Neukaledonien, auf der bei einer Geiselnahme von FLNKS-Anhängern im April und Mai 23 Menschen - sechs Gendarmen und 17 Kanaken - getötet wurden, d.Red.). Jeden Tag war abends Ausgangssperre. Bei Sonnenuntergang gingen alle Dorfbewohner zu einem gut bewachten Ort, und das Dorf war jeden Abend leer. Immer mußten wir Angst vor Kommandos der Caldoches haben. Die Situation war in allen kanakischen Dörfern gleich. Tagsüber bauten wir Barrikaden, die die Militärs in der Nacht wieder räumten. In meinem Dorf gibt es nur 2.000 Einwohner, aber wir wurden von 300 Soldaten bewacht. Die Kinder streuten Reißnägel auf die Straße - das machte die Soldaten ungeheuer wütend. Es wurde auch scharf geschossen. Die Soldaten schossen vom Hubschrauber mit dem Maschinengewehr. Es war Krieg.
Zuerst ging der Zucker aus, dann das Benzin. Alle Lieferungen aus Noumea (Hauptstadt Neukaledoniens, d.Red.) waren unterbrochen. Die Kinder gingen nicht mehr zur Schule. Niemand konnte arbeiten. Die Bank war geschlossen. Schließlich fingen die Leute an, sich untereinander zu streiten. Dann habe ich gesagt: Wir hören auf und machen etwas anderes. Also haben wir Frieden gemacht.
Erst mußten wir arbeiten. Straßen, Häuser, Klos, Wasserversorgung, Viehzäune - alles mußte wieder hergerichtet werden. Und dann bin ich nach Paris gekommen, um mit Rocard & Co. zu diskutieren. Es war schwierig, das Abkommen in Paris zu erreichen, aber danach war es noch schwieriger. Es gab einen kleinen Bruch: Die Trotzkisten in Frankreich zum Beispiel, sie machen jetzt nicht mehr mit. Und bei uns gab es Spannungen zwischen Dorf- und Stadtbewohnern. Den Krieg hatte man ja nur auf dem Land und nicht in der Stadt erlebt. Gut, das ist wohl immer so: Es gibt Leute, die können schön reden, aber wenn man dann von Aktion redet, und wenn die Kugeln um die Ohren sausen... Trotzdem, glaube ich, sind wir heute alle glücklicher als noch vor einigen Jahren.
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