: Auf der Suche nach dem anderen Amerika
Zwischen Austin und Boston in einer Radio-Talk-show bei Atomkraftgegnern, bei den liberalen Hinterwäldlern von Vermont / Enttäuschung und Zorn über den Demokraten Dukakis bei den linken Grünen von den Grünen Bergen ■ Aus Austin Reed Stillwater
In Boston gießt es. In der U-Bahn die deprimierten Gesichter von Großstädtern, Menschen in Wollmützen, das könnte Hannover oder Berlin sein. Von Austin nach Boston, wie konnte ich bloß Texas, dieses weite Land voll Sonne, Wärme und Charme verlassen?
Das Büro der „Massachusetts Citizens for Safe Energy“ (Bürger von Massachusetts für sichere Energie) ist in einem heruntergekommenen Gebäude im Temple Place untergebracht. Der Taxifahrer sagt, dies sei mal eine der schönsten Straßen Bostons gewesen. In den Büroräumen herrscht aktives und kreativ wirkendes Durcheinander. Hier geht es nicht um die Wahl an sich, nicht darum, ob Dukakis das kleinere Übel ist, hier geht es um „Question 4“. Die Bürger von Massachusetts entscheiden am 8. November nicht nur darüber, wer Präsident des Landes wird, sondern auch über eine Reihe von Referendumsfragen, von denen Question 4 sicherlich die wichtigste ist.
Es geht darum, ob die beiden Atomkraftwerke Pilgrim und Yankee Rowe in Massachusetts stillgelegt werden sollen. Dieses Referendum könnte Signalwirkung für das ganze Land haben, so oder so. Yankee Rowe ist das älteste Atomkraftwerk des Landes. Es würde heute nicht mehr zugelassen werden. Pilgrim ist seit 1986 wegen technischer und administrativer Mängel stillgelegt, soll aber den Betrieb wieder aufnehmen. 120.000 Unterschriften wurden gesammelt, um diese Frage zur Volksabstimmung zu bringen.
Im Büro arbeiten etwa ein Dutzend Leute, politischer Direktor, Wissenschaftsreferent, sogenannte Field Coordinators, die die Aktivitäten in den Counties (Bezirken) koordinieren, nicht gezählt all die Leute, die von Tür zu Tür gehen, Leute anrufen. Die Gruppe hat 374.000 Dollar zusammenbekommen. Einer Gruppe „Massachusetts Citizens Against the Shutdown“, die für den weiteren Betrieb der Kraftwerke eintritt, standen 7,2 Mio. Dollar zur Verfügung.
Durch den strömenden Regen geht's bei Einbruch der Dunkelheit in die Kleinstadt Attleboro südlich von Boston. Anna Gyorgy, die politische Direktorin der Initiative, wird sich mit Steve Allen von der Pro-Atomkraftwerks-Initiative in Ron Struminskis „Real Talk Show“ auf Radio WARA treffen. Die großen Ausfallstraßen sind um diese Zeit ohnehin und bei dem Regen erst recht völlig verstopft: meilenweiter achtspuriger Stau.
Zur Talk-show kommen wir eine Dreiviertel Stunde zu spät. Ron Struminski ist Schuldirektor, aber abends macht er seit mehr als zehn Jahren seine „Real Talk Show“, er hat Routine darin, Schwierigkeiten dieser Art zu überbrücken. Radio WARA ist im Erkerzimmer eines dreistöckigen Steingebäudes untergebracht. Einige Schaumgummidämmplatten an der Wand, zwei Mikrofone und ein Bandgerät, mehr braucht Radio WARA nicht, Musik, Nachrichten und Werbespots sind auf Bandkassetten, den Rest macht zwei Stunden lang Ron Struminski ganz souverän. Die Anrufer, die sich bei dieser Talk-show melden, haben eine Hauptsorge: den Treibhauseffekt. Dieser Sommer war der heißeste seit Menschengedenken.
Treibhauseffekt, das bedeutet den Leuten aufeinmal etwas. Steve Allen pocht außerdem auf das viele Geld, mit dem die Steuerzahler von Massachusetts die Betreiber entschädigen müßten: 250 Mio. Dollar pro Jahr für die nächsten 20 Jahre, ein Argument, das bei amerikanischen Wählern immer einen starken Eindruck macht.
Was ist hier das andere Amerika? Ron Struminski mit seiner improvisierten Radiobude in dem winzigen Ort Attleboro oder Anna Georgy, elegant gekleidet, ganz Business Woman, ganz Charme und Kompetenz? Amerika ist beides, das eine wie das andere. Für Anna ist das die 14. Talk-show in den letzten drei Wochen. Seit sie den Job als politische Direktorin dieser Kampagne Anfang September angenommen hat, dreht sich für sie alles um Question 4, sogar auf ihrem Anrufbeantworter wird man daran erinnert „Vote yes on Question 4“. Die Polls, die Meinungsumfragen, geben Question 4 kaum eine Chance, „aber immerhin, wir haben diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt“, sagt Anna.
Etwa 20 Meilen westlich von Boston und Cambridge hat mich der Zauber Neu Englands eingeholt. Kalt ist es zwar, aber es hat zu regnen aufgehört, der Himmel ist wild bewegt, gelegentlich bricht die Sonne durch und läßt die Blätter, die der Sturm noch nicht davongetragen hat, rostrot und hellrotorange auflodern. Whately ist da, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Town Hall und Bibliothek sehen aus wie aus einem Spielkasten des vorigen Jahrhunderts. Hier geht es um Question 5.
Sollen die Repräsentanten von Massachusetts und die Senatoren des Staates angewiesen werden, die Militarisierung des Weltraums zu stoppen und Star Wars zu Fall zu bringen? Diese Frage taucht auf den Wahlzetteln von vier Counties im westlichen Massachusetts auf. Die kleinen Gemeinden hier sind seit langem politisch sehr aktiv. Das muß in der Geschichte dieser Gegend liegen.
Um Amherst herum liegen sechs Universitäten, dort war in den Sechzigern viel politische Bewegung. Viele sind nach dem Studium hiergeblieben und haben sich auf das Leben in Wald und Einsamkeit und dem liberalen Klima eingerichtet. Hier begannen Antiatom- und Friedensbewegung. Die Tradition politischen Widerstandes geht tief in die Geschichte dieses Landesteiles zurück. Hier schließlich begann die amerikanische Revolution, hier steht die Wiege Amerikas und die Wiege amerikanischen Denkens. Viele Leute sind es nicht, die an diesem Abend in der kleinen Bibliothek von Whateley zusammenkommen. Alles Menschen aus der Nachbarschaft, Leute, die ohnehin politisch aktiv sind und deswegen in diese Gegend gezogen sind.
Steve zum Beispiel kam ursprünglich aus Mississippi nach Austin, Texas. Er war auf dem Weg nach Kalifornien, wie soviele Anfang der siebziger Jahre, doch dann blieb er in Austin. Austin kam ihm nach Mississippi wie der liberalste Ort der Welt vor. Er hatte sich nie vorstellen können, aus Austin wegzugehen. Doch dann gab es in Austin für ihn keine Arbeit mehr und irgendwie verschlug es ihn hier nach Whately, wo er jetzt als Zimmermann alte Farmhäuser repariert, ein Handwerk, das er nie erlernt, sondern sich durch praktische Erfahrung angeeignet hat.
Wie er sich fühlt als „southerner“ und Texaner zwischen Austin und Boston, zwischen Texas und Massachusetts? Politisch ist das hier viel freier, viel liberaler, hier stimmen die Leute gegen Reagan und Star Wars, hier gehört er zum ersten Mal nicht zur Minderheit.
Doch kulturell? Ihm fehlt die freundliche, herzliche und easy-going-Art des Südens, der Texaner. Seine Freunde in Texas können nicht verstehen, wie er hier oben leben kann unter all diesen Yankees, und die Leute hier können nicht verstehen, warum es ihn immer wieder nach Texas zieht zu diesen Rednecks.
Vermont ist nicht der kleinste Staat der USA, aber sicher einer der hinterwäldlerischsten, in dem sich individuelle Lebensart gegen amerikanischen Konformitätsdruck am besten bewahrt hat. In Vermont ist vieles anders. Vermont hat mehrere Parteien, die größte Stadt hat einen sozialistischen Bürgermeister, Bernie Sanders, der 1988 für das Repräsentantenhaus kandidiert. Vermont heißt Grüne Berge.
Vermont ist der grüne Staat. Er ist eine der Hochburgen der US-Grünen, er ist die Hochburg der sich als links verstehenden Grünen. Howie Hawkins aus White River Junction war einer der Hauptorganisatoren der ersten nationalen Konferenz der Grünen letztes Jahr in Amherst, Massachusetts. Murray Bookchin aus Burlington ist so etwas wie der Theoretiker der linken Grünen. In Murrays Haus trifft sich die Burlingtoner Ortsgruppe.
Wir beginnen unsere politischen Zusammenkünfte immer mit Lektüre und Studium. Marxistische Schulungstradition selbst da, wo es um die Revision des Marxismus geht! Heute Abend ist das Kapitel über die falschen Erwartungen, die marxistische Intellektuelle an die Arbeiterklasse knüpfen, dran.
Bei aller Skepsis gegenüber den Demokraten, habt Ihr nicht doch Angst, daß der ehemalige CIA-Direktor Bush die Wahl gewinnt? Diese Frage scheint einen Damm zu brechen. Enttäuschung und Zorn über den Kandidaten Dukakis sprudeln hervor. Dieser Mann hat nie zurückgeschlagen, er hat sich nie für seine Ideen eingesetzt, er hat es zugelassen, daß Bush das Wort Liberaler zum Schimpfwort gemacht hat, statt sich zu liberalen Prinzipien zu bekennen und in die Offensive zu gehen. Nicht nur ist er ein Feigling, er verachtet die Wähler, er traut ihnen nicht zu, eine Position zu verstehen. Kein Wunder, daß ihn Bush schlagen zu können scheint.
Sein größter Fehler war zu behaupten, in dieser Wahl gehe es nicht um Ideologie, sondern um Kompetenz. Die Amerikaner sind nicht in erster Linie an Kompetenz und auch nicht an politischen Fragen und Positionen interessiert, sie wollen keinen Buchhalter, keinen Generaldirektor, sondern einen Präsidenten, einen, der ihre Werte und ihre Ideale verkörpert, eine Persönlichkeit, einen Mann. Das hat Dukakis nicht begriffen, und deshalb wird er wahrscheinlich die Wahl verlieren. Wo ist das andere Amerika? Zwischen Austin und Boston gibt es viele und noch ganz andere Amerikas.
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