: Kleiner Mann, was nun?
Zum Rücktritt von Philipp Jenninger ■ G A S T K O M M E N T A R
Wenn es jetzt jemanden gibt, der trotz aller Bemühungen um Verstehen die Welt nicht mehr versteht, dann ist es der zurückgetretene Bundestagspräsident Jenninger. Da hat er sich redlich angestrengt, den Nationalsozialismus, dessen Verbrechen er benennt und verurteilt, im Zusammenhang der deutschen Geschichte zu begreifen. Da hat er (oder sein Ghostwriter) sich die Mühe gemacht, die einschlägige Literatur abzusuchen, und die für einen Bundestagspräsidenten ungewohnte Strapaze wird durch die Rücktrittsforderung honoriert. Da hat er unter deutlicher Anspielung auf den Historikerstreit gegen Nolte Stellung genommen und gesagt, daß die Vergangenheit „nicht vergehen wird“, und daß er das akzeptiert. Und nun wird er von manchen, die da ganz anderer Meinung sind, mit Entrüstung überschüttet.
Der faszinierende Faschismus“ war einmal ein Thema der verblichenen linksradikalen Zeitschrift 'Autonomie‘, und wenn nun der CDU-Abgeordnete Jenninger als Frucht fleißiger Lektüre vom „Faszinosum“ spricht, wird plötzlich ein Skandal daraus. Dabei hat er nichts anderes tun wollen als das zu ergründen, was in wissenschaftlichen Publikationen die „subjektive Basis des Nationalsozialismus“ heißt. Was hat er nur falsch gemacht?
Vielleicht hat er an seinen gut schwäbischen Bauernonkel gedacht, der die Schuld an seinem Ruin jüdischen Viehhändlern in die Schuhe schob, als er sich jetzt in der Kunst der Identifikation geübt hat. Wenn sich ein kleiner Mann in den kleinen Mann hineinversetzt, passiert es leicht, daß ihm die große Geschichte über den Kopf wächst und ihm den Rückzug abschneidet. Vor dem Bundestag hat Jenninger den kleinen von Hitler faszinierten Mann so überzeugt gespielt, daß schließlich auch die Zuschauer keinen Unterschied zwischen Person und Rolle mehr erkannten. Jenninger hat die Öffentlichkeit des Bundestags mit einer Therapiegruppe verwechselt. Er hat vergessen, daß es bei einer repräsentativen politischen Rede nicht auf den therapeutischen Effekt, sondern auf die Schlagzeilenresistenz und Fernsehfestigkeit jedes einzelnen Satzes ankommt. Jenninger hat letzten Endes gehen müssen, weil er über seiner gutgemeinten Anstrengung, die Vergangenheit zu begreifen, die Fernsehgegenwart an einem symbolisch hochsensiblen Gedenktag aus den Augen verlor. Und niemand hat ihn vor dieser Falle bewahrt.
Lothar Baier
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