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Hexenprozeß mit Rechtsbeugung

■ Im Verfahren gegen den Frauenarzt Theissen verstoßen die Richter gegen die Strafprozeßordnung Über Ablehnungsanträge selber entscheiden / Verteidigung fordert Abbruch der Verhandlung

Memmingen (taz) - Der spektakuläre Memminger Abtreibungsprozeß gegen den Frauenarzt Dr. Theissen steht kurz vor dem Abbruch. Darüber kann auch die hektische Betriebsamkeit der Großen Strafkammer des Landgerichts nicht hinwegtäuschen. Ihr Verhalten mache ein rechtsstaatliches Verfahren unmöglich, so Verteidiger Jürgen Fischer.

Grund: Die Memminger Richter haben über Befangenheitsanträge der Verteidigung selbst entschieden und sich gegenseitig die Unbefangenheit bescheinigt. Bei einem Befangenheitsantrag ist es jedoch notwendig, daß zumindest der Richter, gegen den die Ablehnung gerichtet ist, bei der Entscheidung über den Antrag ausgewechselt wird. Dieser Rechtsgrundsatz ist in der Strafprozeßordnung verankert. Die Entschuldigung des Vorsitzenden Richters Albert Barner, das Gericht habe lediglich die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom Dezember 83 übersehen und deshalb fehlerhaft gehandelt, verharmlost die Situation. Bisher hatten die Verteidiger mehrfach die Befangenheit der Richter festgestellt. Keiner der Anträge wurde angenommen. Dies scheint besonders beim Befangenheitsantrag gegen Beisitzer Detlev Ott merkwürdig, der 1980 als Staatsanwalt gegen Dr. Theissen wegen des Verdachts auf illegale Schwangerschaftsabbrüche ermittelte. Das Verfahren wurde damals eingestellt. Für das Gericht gilt der ehemalige Staatsanwalt Ott nach wie vor als unbefangener Richter. Laut Richter Albert Barner hätte der Angeklagte Dr. Theissen das damalige Verfahren als „Warnschuß“ begreifen müssen. Trotz der bisher begangenen Rechtsfehler will die Kammer das Verfahren durchziehen. Lediglich der Zeitraum des Verfahrens soll für nichtig erklärt werden, in dem die Befangenheitsanträge fehlerhaft behandelt wurden. Vorgestern sollte das Verfahren auf den Stand vom 7.Oktober 1988 zurückgeschraubt werden; gestern auf den Stand von vor drei Tagen. Die Vorschläge der Kammer bezeichnete Sebastian Cobler, einer der drei Verteidiger, als „Treppenwitz“. Seiner Ansicht nach ist das Verfahren nicht mehr zu retten. Das Weiterlaufenlassen des Verfahrens durch das Gericht käme einer Rechtsbeugung gleich. Einen bestimmten Verhandlungsabschnitt formal so zu behandeln, als hätte er nie existiert, kann das in diesem Verhandlungszeitraum Geschehene nicht aus den Köpfen der Prozeßbeteiligten zwingen. Die Verhandlung wurde gestern mittag unterbrochen. Die Staatsanwaltschaft beriet den Aussetzungantrag der Verteidigung.

L.Koch/W.Zimmermann-Hedewig

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