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Bakunin,Perestroika und Mr. Russell Hand in Hand

■ Südkoreanische Anarchisten aus der Illegalität aufgetaucht/"1. Internationale Konferenz für den Weltfrieden" in Seoul/Motto: Fort vom Sektierertum, hin zu den Massen/UdSSR-Vertreter für...

Mr. Russell Hand in Hand

Südkoreanische Anarchisten aus der Illegalität aufgetaucht / „1. Internationale Konferenz für den Weltfrieden“

in Seoul / Motto: Fort vom Sektierertum, hin zu den Massen / UdSSR-Vertreter für Absterben des Staates

Doktor Vladimir Mschvenieradse ist Mitglied der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften und ein Routinier. Er fühlt sich keine Spur unwohl in dieser von Anarchisten einberufenen Friedenskonferenz. Mit einem gewinnenden Lächeln erklärt er den koreanischen Zuhörern und den 22 Gästen aus zwölf Ländern unumwunden, daß er große Sympathien für die Anarchisten hege und daß sein Land eigentlich schon immer für die Abschaffung des Staates gewesen sei. „Ich komme aus dem Land der Perestroika“, sagt er und breitet einladend die Arme aus. „Aber wissen Sie, Perestroika kommt nicht von Gorbatschow - sie ist eine Schöpfung von Albert Einstein und Bertrand Russell.“ Diese unorthodoxe Definition aus dem Munde eines offiziellen Vertreters des Sowjetstaates läßt sogar die Zeitungsreporter aufhorchen - die Anarchisten haben sowieso schon immer die Ohren gespitzt. „Sympathy with the devil“, raunt ein Brite seinem deutschen Nachbarn ins Ohr.

Neben dem sowjetischen Delegierten sitzt Konstantyn Radziwill, ein ernster und schweigsamer Vertreter der polnischen „Bewegung für Freiheit und Frieden“ (WIP). Er lacht, schüttelt energisch den Kopf und hebt abwehrend die Hände, als Mschvenieradse ausgerechnet ihn zum Kronzeugen für eine gewagte These benennt: In der Sowjetunion sei die Existenz einer Armee notwendig, weil die Bevölkerung wegen des hohen Blutzolls im zweiten Weltkrieg dies so wünsche. Das sei doch wohl eine Erklärung, die weit hinter das Niveau der Analysen falle, die der Kongreß bisher erarbeitet habe, erbost sich Peter Forham, Vertreter von Greenpeace London. Inecke Fricken, Sprecherin der anarchistischen Gewerkschaftsinternationale IWA, die zur Rechten des jovialen Georgiers Mschvenieradse sitzt, starrt ihn entgeistert an, und schüttelt nur den Kopf.

Der von den Koreanern etwas steif und äußerst korrekt organisierte Kongreß gerät ein wenig aus den Fugen, als Fragen laut werden: ob es denn in der Sowjetunion eine Volksbefragung über die Abschaffung der Armee geben werde und warum es denn mit der Überwindung des Staates so lange dauere, wenn dies der Wunsch der Sowjetregierung sei. Von den Delegierten in die Enge getrieben, sagt Vladimir Mschvenieradse sogar zu, einige der Konferenzbeiträge in der Sowjetunion zu publizieren, eventuell... Immerhin: Er ist gekommen, steht Rede und Antwort und hört auch aufmerksam zu. Sein amerikanischer Kollege vom Hoover-Institut in Stanford hatte es vorgezogen, gar nicht erst zu erscheinen. Die Familie als

Schlachtfeld Nummer zwei

Nicht immer ging es so kurzweilig zu auf dem 1.Internationalen Seminar für den Weltfrieden. Eingeladen hatte die Koreanische Anarchistische Föderation (FAK) - die erst vor einem Jahr aus der Illegalität auferstand. Tagungsort war vom 28. bis zum 31.Oktober die Sejong-Kulturhalle, ein seriös-pompöses Gebäude, in dem sonst Parteikongresse und patriotische Versammlungen stattfinden. Harte Arbeit stand im Vordergrund: Aktivisten, Delegierte und Akademiker aus Australien, der BRD, Frankreich, Großbritannien, Hongkong, Italien, Japan, Kanada, Korea, der UdSSR und den USA suchten eine zeitgemäße Einschätzung zu Rüstung, Kriegsursachen und den Chancen für Frieden.

Obwohl nicht nur Anarchisten teilnahmen, gelangte die Konferenz rasch zu radikaler Übereinstimmung. Das gemeinsame Schlußdokument bringt einiges auf den Punkt: „Wirklicher Frieden ist in hierarchischen Gesellschaften nicht möglich“, heißt es dort, ausgehend von der fast schon banalen Feststellung: „Die Abwesenheit von Krieg ist nicht Frieden.“

Diese Ansicht hat ebenso mit der Tatsache zu tun, daß der technisch-militärische Komplex bereits im „Frieden“ durch seine bloße Existenz tötet, wie mit der Frage, was man überhaupt unter Frieden respektive Krieg verstehen will. Leigh Kendall, Delegierter der australischen Anarcho -Syndikalisten, weist zum Beispiel darauf hin, daß in Australien „die Familie der Ort ist, an dem die meisten Tötungen geschehen“. In Wahrheit sei die Familie ein Schlachtfeld ebenso wie die industrielle Produktion, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern oder die Ausplünderung der Ressourcen unseres Planeten. „Wir sehen deshalb in dem, was unsere Politiker Frieden nennen, einen sozialen Krieg, den Regierungen gegen ihre Bürger oder einzelne Gruppen von Bürgern gegen ihre Mitbürger führen.“ Eine Schwalbe macht noch

keinen Sommer und eine

Armee noch keinen Krieg

Aber selbst das, was wir gemeinhin unter Krieg verstehen die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten - ist ein Phänomen, das voller Mythen steckt. Die Seouler Friedensaktivisten versuchten, einige davon auf den Misthaufen der Geschichte zu befördern:

Kriege entstehen nicht, weil Armeen und Waffen existieren, sondern Armeen und Waffen existieren, weil sie im Rahmen hierarchischer Systeme politisch vernünftig und wirtschaftlich sinnvoll sind. Steve Izma (Toronto) und Howard Besser (San Francisco) assistierten dieser These mit neuesten Analysen nordamerikanischer High-Tech-Industrie, in der eine Unterscheidung zwischen ziviler und militärischer Produktion seit langem nicht mehr möglich ist.

Charles Crute, Londoner Herausgeber der Zeitschrift 'Freedom‘, wies darauf hin, daß Kriegstechnologie, Produktion und Anwendung ein integraler Bestandteil staatlicher Organisationen seien und daß Armeen zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den Krieg seien. „Die Grundlage für Krieg ist nicht die Existenz von Armeen oder ideologische Differenzen zwischen Regierungen und Völkern, sondern folgt staatlich-ökonomischer Logik.“ Woraus der Kongreß folgerte, daß dauerhafter Friede nicht allein mit der Abschaffung der Armeen - geschweige denn mit der Reduzierung von Waffen - erreicht werden könne, sondern erst mit der Beseitigung der Kriegsursachen. Das bedeutet grundlegende Umgestaltung von sozialen Beziehungen. Anarchisten nennen das üblicherweise Revolution, und so war das Ergebnis der Tagung an sich nichts Neues, wohl aber die Aktualität der Erfahrungen und das Niveau der Analyse. Schlechte Zeiten

für Friedensfreunde

In ihren Berichten aus den täglichen Kämpfen und Erfahrungen der verschiedenen antimilitaristischen Bewegungen sagten sich die Aktivisten denn auch selbst schwierige Zeiten voraus. Die üblichen Kampagnen gegen Aufrüstung und für Abrüstung, die schlichten Appelle zu Frieden und gegen Schlechtigkeit, ja, selbst der Kampf gegen den Kriegsdienst und für Verweigerung gingen nicht nur am Ziel vorbei, sondern würden tendenziell immer mehr ins Leere laufen. Durch automatisierte High-Tech-Waffensysteme, Internationalisierung der Konflikte und militärisch -wirtschaftliches Engagement mehrerer interessierter Nationen in Stellvertreterkriegen tut sich eine Perspektive des Krieges auf, der mit immer weniger Teilnehmern auskommt, aber umgekehrt immer mehr Zivilisten trifft. „Wir kreieren auf allen Ebenen eine Welt, in der der Mensch tendenziell überflüssig wird. Die logische Konsequenz aus dieser Entwicklung wäre eine Tendenz zu immer mehr hochspezialisierten Berufsarmeen auf freiwilliger Basis und ein Aufweichen des Prinzips des allgemeinen Kriegsdienstes. So manche klassischen Konzepte der Antimilitaristen müßten dann neu überdacht werden. Das Ziel ist der

anarchistische Alltag

Die Seouler Konferenz war kein Kolloquium von Gelehrten. Professor Wa Ki Rak, der rührige Organisator des Seminars, hatte dankenswerterweise darauf geachtet, eine brisante Mischung aus Intellektuellen und Aktivisten, Anarchisten und Nichtanarchisten einzuladen.

So stand denn auch die Abschlußdebatte ganz im Zeichen der praktischen Nutzanwendung der erarbeiteten Erkenntnisse. Sie ging einher mit einer heftigen Kritik der gegenwärtigen anarchistischen Bewegung. Ein Teilnehmer definierte als Nahziel des modernen Anarchismus die Lösung der Frage, „wie wir aus dem Kreislauf des bloßen Re-agierens, der engstirnigen Propaganda und des Sektierertums herausfinden“. Er berief sich dabei ausdrücklich auf die Aussage des sowjetischen Delegierten, der sehr treffend bemerkt hatte, daß Politik da beginnt, wo Millionen Menschen - nicht ein paar tausend - sich betroffen fühlen und handeln. Steve Roper aus Melbourne sekundierte dieser Selbstkritik: „Heute leben die meisten Anarchisten in der Vergangenheit. Statt dessen sollten wir zusehen, daß wir uns dort, wo wir leben und arbeiten, zusammenschließen und die Interessen der Leute, mit denen wir täglich zu tun haben, reflektieren. Hauptaufgabe muß es sein, Anarchie zu einer Realität im Alltag zu ma chen - nicht nur durch Propaganda und Opposition, sondern vor allem auch durch praktische und praktikable Schritte.“

Roberto Ambrosoli vom Mailänder „Centro Studii Libertari“ forderte gar vernehmliches Nachdenken über eine neue Ethik bei den Libertären. Sein Anliegen löste zwar Beifall und eine rege Diskussion aus, am Ende aber saß man und frau dann aber doch in improvisierten Gruppen beisammen und diskutierte darüber, wie diese Kritik und diese neuen Perspektiven wohl zu Hause umzusetzen seien. Praktikabilität, kleine Schritte und Erfahrungsaustausch gaben diesem internationalen Seminar am Ende doch noch einen hohen Gebrauchswert. „Anarchotourismus“

im Dunst von

Bezinbomben und Museum

Der Kongreß arbeitete fleißig und Freizeit war knapp, dennoch reichte es für Tourismus zweierlei Art: Natürlich war es für die westlichen Anarchisten ein Muß, Kontakt zu den radikalen Studenten herzustellen. Militante Demos gab es fast jeden Tag, und mit dem Gebrauch von Mollies und Schlagstöcken war man nicht gerade zimperlich. Beim gemeinsamen Essen, in Gesprächen und Interviews wurde Schwieriges versucht - die Annäherung von Kim Il-Sung und Anarchie, Parteiengedanke und Autonomieprinzip. Immerhin war es einen Versuch wert und der Beginn eines Dialogs der noch jungen koreanischen Anarchoföderation mit den Studenten abgesehen davon, daß einige europäische Anarchos sich beim Geruch von Benzinbomben wie zu Hause fühlten.

Der andere Tourismus war konventioneller: Offizielle Sightseeing-Tour mit den koreanischen Altanarchisten einschließlich des Besuchs des Olympiageländes und des Museums der Unabhängigkeit. Welch Erstaunen erfaßte dabei auf einmal die westlichen Anarchisten, als sie im offiziellen Staatsmuseum eines Landes, das noch vor einem Jahr knallharte Militärdiktatur war und noch immer keine Demokratie ist, eine Abteilung über den „heroischen Kampf der Anarchisten in Korea“ entdeckten. Vieles war und blieb unverständlich. So das Schicksal des 87jährigen Lee Kang Moon, der auf einer der Tafeln als junger Mann abgebildet war und verlegen lächelnd neben den Betrachtern stand. Hier war er ein Held im Kampf gegen die Japaner, und derselbe Staat, der in dieserart feierte, sperrte ihn über zehn Jahre lang hinter Gitter. Lee Kang Moon meint, daß sei doch kein Widerspruch: „Der Staat ist eben schlau und nimmt sich, was er braucht.“ Diese Weisheit löste unter den ausländischen Gästen Betroffenheit aus. Sollte ihr Beitrag für den Frieden auch eines Tages wohlwollend im Museum landen, ohne Rücksicht darauf, daß sie überdies auch Freiheit wollten?

Horst Stowasser

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