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Vom Nachttisch geräumt: SARTRE

In Frankreich hatte Annie Cohen-Solals 860 Seiten lange Sartre-Biographie großen Erfolg. Selten habe ich die Nachteile des Genres so deutlich gesehen wie hier. Die Chronologie, die äußeren Lebensumstände regieren. Es bleibt kaum Platz, kaum noch Intelligenz für die Auseinandersetzung mit den Werken übrig. Aber auch naheliegendste Überlegungen entfallen, so sehr scheint die Autorin der Zeit hinterher zu japsen. Z.B. wenn sie das Leben des Sartre-Clans schildert: im Cafe Flore sitzen Sartre und de Beauvoir und schreiben, flirten, flirten mit anderen vor den Augen des anderen. „Liebe und Arbeit werden öffentlich gelebt, und für jeden ist Zeit, egal für wen, egal wann. Weder Eigentum noch Abschottungen, noch Geheimnisse: ein durchsichtiges oder fast durchsichtiges Sozialleben...“ Das unter den Augen der deutschen Besatzung. Besteht ein Zusammenhang zwischen dem äußeren Druck und der Lebensweise des Clans? Hat Sartre oder hat de Beauvoir sich dazu geäußert? Welche Interpretationen sind denkbar? Die Politik vorbehaltloser Offenheit im Privaten, entwickelt in einer Zeit der strengsten Klandestinität im Gesellschaftlichen, ist das so weit weg von Sartres Kernfragen, daß es sich nicht lohnte, anzuhalten und dem nachzugehen?

Trotz ihres Umfangs scheint Annie Cohen-Solals Sartre -Biographie gehetzt, ohne Muße, ohne Besinnung. Die Autorin scheint zu ruhelos, um sich und uns Fragen zu stellen. Das hat mir die Lektüre immer wieder erschwert. Trotzdem habe ich das Buch dann doch in vier Tagen verschlungen. Die Fülle an interessanten facts, an Geschichte und Geschichten, trieb mich mit und wann immer ich eine Reflexion vermißte, konnte ich sicher sein, durch viele, kleine Informationen entschädigt zu werden. Oder aber durch Zitate, die ich mir einprägen möchte: „Drieu la Rochelle hat die faschistische Revolution herbeigewünscht, so wie manche Leute den Krieg herbeiwünschen, weil sie sich nicht getrauen, mit ihrer Geliebten Schluß zu machen.“ Die politischen Optionen Sartres, seine antikonformistische Grundhaltung in den Vorkriegsjahren, die Arbeit im Widerstand, die scharfe Kritik an der KP, das sich schützend vor sie stellen während des Kalten Krieges, Algerien usw. , spielen natürlich eine zentrale Rolle vor allem bei der Schilderung der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre. Allerdings: Sartres Auseinandersetzungen mit Camus und Merleau-Ponty werden mit der gleichen Intensität geschildert wie Sartres Drogen- und Frauenkonsum. Es mag sein, daß das der Bedeutung dieser Faktoren in Sartres Leben entspricht. Ich aber hätte gern mehr als zwei Seiten über den Krach mit Merleau-Ponty gelesen. Nicht zu überbieten ist Cohen-Solal an einigen Stellen bei der Beschreibung des geistigen Klimas einer Epoche. Das Kapitel „Ihr seid fabelhaft“, in dem sie diesen Spruch eines Radio- und Fernsehanimateurs zum Motto der französischen Fünfziger Jahre macht, deren schulterklopfender, biedermännischer Stolz auf die neuen „Wonnen von Kühlschrank, Küchenmaschinen, Resopal und Plastik“ so verständlich wie unerträglich war, ist ein Glanzstück in Sachen Zeitgeschichte. Sehr schön gelingen der Autorin auch Stellen wie diese: „Als Sartre nach Paris zurückkam, erfuhr er, daß sein Stiefvater Joseph Mancy am 15. Januar 1945 gestorben war. Ohne zu zögern, zog der vierzigjährige 'Poulou‘ sofort zu seiner 'petite maman‘ zurück. Gemeinsam richteten sie sich in einer etwas altmodischen Wohnung ein, Nummer 42 der Rue Bonaparte, an der Ecke zwischen Saint Germain des Pres und der Rue de Rennes. Im Salon im falschen Louis-XVI-Stil stand ein Klavier; den beiden Schweitzernachfahren bereitete es größtes Vergnügen, jeden Morgen vierhändig Chopin-Walzer oder Schubert-Lieder zu spielen. Der Sohn erhielt ein eigenes Zimmer mit einem schmalen Einpersonenbett, einem Regal sowie einem kleinen Schreibtisch am Fenster mit Blick auf die Kirche und den Platz. Madame Mancy ließ sich von einem Hausmädchen helfen, das Poulous Hemden wusch und bügelte. Sie kümmerte sich um die materiellen Angelegenheiten jenes berühmten Mannes, der ihr Sohn geworden war, voller Bewunderung und Erstaunen über das 'häßliche Entlein‘, das sie geboren hatte.“

Annie Cohen-Solal, Sartre 1905-1980, Rowohlt-Verlag, hervorragend übersetzt von Eva Groepler, 862 Seiten, 57 s/w Fotos, 58 Mark

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