Kunst im Stuttgarter Hof

■ Fließende Ausstellung: 22 KünstlerInnen leben und arbeiten im ehemaligen Hotel Stuttgarter Hof

Wenige eklatante Beispiele der Post-Jenninger-Ära-Idiotie packen mich so, wie wenn ich jemanden, der den Stuttgarter Hof besucht, erklären höre, daß er plant, Berlin zu verlassen und nicht wiederzukommen, „es sei denn, das lange versprochene zweite Weimarer Kultur-Zeitalter wird wirklich wahr“. Wenn Kunstkritiker und Literaturagenten diese Haltung im Berlin der zwanziger Jahre eingenommen hätten, hätte es kein erstes Zeitalter zeitgenössischer kultureller Entdeckung gegeben.

Als in Berlin vor 60 Jahren der Austausch neuer Ideen nur so summte, rasend war vor halb-verrückt klingenden Schnippseln kultureller Blüten, berauscht von den nächtelangen Parties, auf denen Blitze von andauernder künstlerischer Leistungen geboren wurden, scherten sich die meisten einen feuchten Kehricht darum. Weder das offizielle Deutschland wachte auf und zeigte Interesse noch die etablierte linke Szene, nicht einmal die zersplitterten Radikalen. Schließlich waren diejenigen, die ihre kulturellen Bedürfnisse während der Berliner Weimarer Tage auslebten, noch nicht als Megastars der Kunst bekannt. Sie waren anonyme Neuerscheinungen aus allen Teilen Deutschlands und auch aus vielen Teilen Europas. Aber ihnen, die sich selbst zu definieren wagten, verdanken wir einen großen Batzen der kulturellen Brillanz des 20.Jahrhunderts.

Seit dem Frühsommer 1988 hat eine ähnlich anonyme und ähnlich autonome Gruppe junger Künstler dem Mythos wieder Hoffnung verliehen, der Berlin davon abhält, auf eine allumfassende kulturelle Bedeutungslosigkeit reduziert zu werden. Zwei Dutzend Künstler haben sich in einem besetzten ehemaligen Hotel niedergelassen, dem Stuttgarter Hof, nur ein leeres Feld entfernt vom Martin-Gropius-Bau und dem alten Gestapo-Hauptquartier.

Sie besetzten das Hotel, weil sie weder Wohnungen hatten, in denen sie leben, noch Studios, in denen sie malen konnten. Und auch die Mittel fehlten, um sehr viel mehr als Tempera-Farben und Schultheiss-Bier bezahlen zu können. 22 von ihnen haben schließlich eine abenteuerlich gemischte, fließende Ausstellung von Bildern, Skulpturen und neuen Formen geschaffen, die sich über die vier Stockwerke des Stuttgarter Hofs erstreckt. Sie arbeiten dort und essen dort und feiern ihre Feten dort und schlafen dort. Und seit die Temperaturen unter Null die Stadt zu plagen beginnen, frieren sie dort auch, das Skelett Hotel bietet keines seiner früheren Merkmale mehr wie Hitze und Glasfenster.

Aber wenn kein Wunder geschieht, wird Ende des Monats Schluß sein mit dem, was diese Künstler geschaffen haben. Die Gäste, die sich selbst eingeladen hatten, sollen geräumt werden; der Eigentümer plant diesen Ort mit der Hilfe aus offiziellen Berliner Töpfen zu renovieren und daraus noch eine Sleeperia für diejenigen zu machen, die mit der stärksten Waffe ausgestattet sind, die Berliner Gesetze erlauben: der Kreditkarte.

Kein Pfennig Staatsknete floß je den Künstlern vom Stuttgarter Hof zu, was jederzeit ein trauriges Kapitel gewesen wäre, aber zum Zeitpunkt, an dem Berlin als europäische Kulturhauptstadt regiert, besonders blamabel ist. Die Hausbesetzer habe statt dessen durch die mageren Unterstützungen von Besuchern ihres fließenden Kunstmuseums und von den Gästen ihrer Parties der letzten Monate überlebt.

Die Künstlergäste vom Stuttgarter Hof suchen nun verzweifelt neue Unterkünfte, die ihnen erlauben, ihre Arbeit fortzusetzen. Benötigt wird genug Platz, damit 22 Personen leben und ganztags arbeiten können, vorzugsweise mit einigen luxuriösen Einrichtungen wie Wärme, elektrisches Licht und fließendes Wasser. Die Vorschläge sollten mit den Bewohnern des Hotels Stuttgarter Hof in der Anhalter Straße beraten werden.

Wenn bis zum Ende des Monats keine Räume gefunden werden, wird ein großes Experiment sterben und damit Hoffnungen auf ein Revival der Tradition, die Berlins große Periode des kulturellen Erwachens in der Weimarer Zeit hervorrief. Der Verlust für Berlin wäre um so ernster, als Vertreter von Kunstmuseen in Amsterdam, Ost-Berlin und Italien langsam neugierig werden auf die kulturellen Vorgänge im Stuttgarter Hof und sich überlegen, ob sie alles oder einen Teil dessen, was bereits geschaffen wurde, für ihre eigenen Ausstellungen importieren.

Ran Jak Übersetzung: Rita Hermann