: Thälmann? Ab ins Archiv!
Im Zuchthaus schmachtender deutscher Arbeiterführer interessierte Stalin nicht ■ Von Rainer M.Kosch
Für einen Moment herrschte in der „Neuen Aula“ der Tübinger Universität gespannteste Aufmerksamkeit. Stalin-Biograph Wladimir Wolkogonow (58) kam zur Sache. Er sprach über das Verhältnis des großen Diktators zu dem populären deutschen Arbeiterführer Ernst Thälmann, den die Nationalsozialisten mit Beginn ihrer Machtübernahme ins Zuchthaus geworfen hatten. „Eines Tages brachte ein Botschaftsangehöriger Stalin ein Telegramm von Rosa Thälmann, der Frau des Deutschen. Darin hieß es sinngemäß, es sei jetzt möglich, im Rahmen der Pakt-Absprachen zwischen Stalin und Hitler, Thälmann in die Sowjetunion zu bringen. Stalin möge sich doch bitte darum bemühen.“
Dieses Schriftstück, das der Militärhistoriker und Philosoph Wolkogonow fand, weil er (wohl als einziger auf der Welt) Zugang zu allen sowjetischen Archiven hat, trägt am Rande den lapidaren Vermerk: „Ab ins Archiv“. Der große Diktator hatte kein Interesse an dem deutschen Arbeiterführer, der 1944 im Konzentrationslager Buchenwald umgebracht wurde.
Wolkogonow war der gefragteste unter den hochrangigen sowjetischen Experten, die der Einladung der „deutsch -sowjetischen Gesellschaft in Baden-Württemberg“ gefolgt waren. Die demnächst erscheinende, mit größter Spannung erwartete Stalin-Biographie wird den Titel Triumph und Tragödie tragen, gab der untersetzte Drei-Sterne-General bekannt. „In der ganzen Welt gibt es 1.480 Stalin -Biographien, nur bei uns bisher nicht eine einzige.“ Schmeichelhaft wird das Werk, das erst durch Glasnost möglich wird, für den früheren Lenker des Sowjetvolkes nicht. „Einmal hat Stalin beispielsweis 37 Todesurteile an einem Tag unterschrieben und ist abends ins Schwanensee -Ballett gegangen.“ Den „Verbrecher“ mit dem „bösen Willen“ und dem „bösen Geist“, so Wolkogonow, habe allein die Macht interessiert. Persönlich war er äußerst bescheiden.
Diverse Vorabdrucke einzelner Passagen haben bereits heftige Reaktionen in der sowjetischen Bevölkerung provoziert. Unter 3.500 ausgewerteten Zuschriften fand der Biograph dabei zwei Drittel, die seine Thesen stützen, und etwa 20 Prozent, die weiterhin Väterchen Stalin verehren, „als wäre ihr Bewußtsein in den dreißiger Jahren eingefroren“. Eine reaktionäre Ehrenrettung Stalins wird und kann es in der Sowjetunion nicht geben. Bedenklich ist aber der auch bei Wolkogonow auszumachende Schlenker, ihn ins Dämonische zu überführen und damit einer tiefer reichenden Bearbeitung zu entziehen.
Auf dem Symposium wurden damit auch die noch existierenden Grenzen in der sowjetischen fachwissenschaftlichen Diskussion deutlich. Heikel ist nämlich die Frage danach, welcher Art die Gesellschaft war, die einen solchen Stalin ermöglichte. Als Ursache für dessen Machtübernahme gibt beispielsweise Wolkogonow in seinem auch in der Bundesrepublik bereits gedruckten Vorwort lediglich an: „Die Hauptursache der späteren Tragödien liegt jedoch woanders. Sie hängt damit zusammen, daß die Nachfolger Lenins seine Anweisungen nicht befolgt haben.“
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