: „Wir wissen nichts von den Problemen
Interview mit Pino Arlacchi über die Wissenslücken der Drogenforscher und eine unkonventionelle Lösung in Verona ■ I N T E R V I E W
Pino Arlacchi (36) ist Italiens führender Mafia- und Drogenforscher. Er lehrt Soziologie an der Universität Florenz.
taz:Das Rauschgiftproblem ist geradezu explosionsartig zum Hauptthema italienischer Medien und Politiker geworden endlich Besinnung auf das Problem oder nur ein politisches Manöver?
Arlacchi: Leider muß man diese Diskussionen wie so vieles in unserem Land im Rahmen politischer Manöver sehen und viel weniger als Ansatz für ein erwachtes Interesse an der Lösung der Probleme. Wir wissen nun zwar genau, was PSI-Chef Craxi, PCI-Sekretär Occhetto und Ministerpräsident De Mita über Drogen denken. Doch von den Problemen des Rauschgiftes selbst wissen wir nichts.
Genauer?
Die Diskussion rankt sich faktisch ausschließlich um die Frage einer Strafbarkeit des Rauschgiftkonsums und -handels. Doch niemand spricht über eine wirksame Vorbeugung, über Mittel, die dafür notwendig sind, über eine Verminderung der Zahl bereits Süchtiger.
Woran hapert es da konkret?
Vor allem daran, daß wir zwar unheimlich viel über Rauschgift schwatzen, aber nichts Konkretes in der Hand haben, von dem aus man wirkungsvoll ansetzen könnte. Wir kennen die Zahl der Süchtigen nicht, wissen nicht, ob sie zu - oder abnimmt. Wir wissen nicht, ob Kokain wirklich so im Vormarsch ist und Heroin zurückgeht, wir haben keine Ahnung über die exakte Zusammenstzung des Marktes sogenannter „leichter“ Drogen wie Haschisch und Marihuana. Wir wissen nicht einmal genau, woran denn die nun so spektakulär mehr gewordenen Drogentoten wirklich gestorben sind; es fehlt jede Forschung dazu. Es gibt Theorien, nach denen diese Menschen sterben, weil sie allzu reines Heroin erwischen. Andere aber behaupten, daß Fixer irgendwann einfach ans Ende ihrer „Karriere“ kommen und bei irgendeiner Dosis sterben.
Unbestreitbar scheint jedoch, unabhängig von der Forderung nach Bestrafung auch der Abhängigen, daß große Händler wie kleine Pusher sich immer ungenierter tummeln, in Espresso -Bars und selbst vor Schulen.
Auch da wird wieder viel Vernebelung betrieben. Erstens ist die Größe und Zusammensetzung des Drogenmarktes ebenso unbekannt wie die durchfließenden Geldmengen. Sicher ist, daß sie sehr groß sind, doch an welchen Stellen sich diese Größe qualitativ wandelt, von der bloßen kriminellen Erwerbsquelle zu ökonomischer und politischer und damit schwer zu bekämpfender Macht, darüber gibt es wieder nur Spekulationen. Hier wird mit der angeblichen Unüberwindlichkeit der großen Gruppen aus Mafia und Camorra argumentiert. Das aber stimmt nicht. In einer Studie über die Stadt Verona die ich in der kommenden Woche der Öffentlichkeit vorstellen werde, bin ich mit meinen Mitarbeitern zu ausgesprochen erstaunlichen Ergebnissen gelangt. Dort war bis vor einigen Jahren ein kräftiger Ausleger sizilianischer Drogenhandelsgruppen etabliert. Als sich die Veroneser darüber klarwurden, gab es zwei bemerkenswerte Reaktionen. Die Polizei griff, im Gegensatz zu anderen Städten, entschlossen durch - und die Bürger, vor allem die Händler und Handwerker, nahmen den Markt in ihre eigenen Hände. Seither handeln sie selbst mit Drogen.
Das ist natürlich ebenfalls illegal, doch es geschieht anders als bei mafiosen Gruppen ohne Gewalt und Pressionen. Resultat: Der Konsum hat sich stabilisiert, geht sogar zurück, und der Markt ist unter ausreichender Kontrolle der Justiz. Damit will ich nicht den Rauschgifthandel durch reguläre Geschäftsleute als Lösung für die Drogenproblematik empfehlen. Doch der Vorgang zeigt, daß auch mafiose Gruppen keineswegs unüberwindlich sind, und daß sich der Rauschgiftsektor sehr wohl auch kontrollieren läßt.
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