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„Gesetzliche Krankenkassen haben versagt“

Ellis Huber, Präsident der Ärztekammer Berlin, zum geringen Widerstand gegen die Gesundheitsreform und die Rolle der gesetzlichen Krankenkassen / Angebote der Ärztekammer werden von der AOK nicht angenommen  ■ I N T E R V I E W

taz: Wie erklären Sie sich, daß an der Demonstration gegen das Gesundheitsreformgesetz am vergangenen Samstag nur 500 Leute teilgenommen haben?

Ellis Huber: Ein Grund ist sicherlich, daß sich die Demonstrationen gegen das Gesundheitsreformgesetz in der letzten Zeit etwas gehäuft haben. Der zweite Grund ist, daß die wirklichen Gehalte dieses Gesetzes bei vielen Betroffenen noch nicht angekommen sind. Erst wenn es ab 1.Januar in Kraft sein wird, werden viele schmerzlich spüren, was es bedeutet.

Die Tatsache, daß jetzt massenhaft Leute zum Augenarzt rennen, um sich schnell noch eine neue Brille zu holen, und viele Zahnärzte bis zum Jahresende ausgebucht sind, deutet aber auf das Gegenteil.

Innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung ist seit einigen Jahren eine zunehmend schneller werdende Entsolidarisierungsentwicklung zu beobachten. Der einzelne Bürger versucht in diesen vereinzelten Lebensverhältnissen zunehmend das Beste für sich herauszuholen, wobei ihm das Verständnis und Gespür für den Inhalt einer Solidargemeinschaft abhanden gekommen ist. Hier haben die gesetzlichen Krankenkassen eigentlich auch in der Betreuung ihrer Mitgliedschaft versagt. Hier ist die Öffentlichkeitsarbeit nicht angemessen erfolgt. Das schlägt jetzt zurück auf die Auseinandersetzung mit der Bundesregierung bei der Durchsetzung einer vernünftigen Reform im Gesundheitswesen.

Wie ist denn die Stimmungslage innerhalb der Berliner Ärzteschaft in bezug auf das neue Gesetz?

Sie ist ziemlich desolat und resigniert. Was wir bräuchten, ist ein kollektives, verläßliches Management der Informations- und Aufklärungssysteme über die einzelne Arztpraxis hinweg. Dies müßte die Ärzteschaft gemeinsam mit den Krankenkassen organisieren.

Warum passiert das nicht?

In Berlin ist die Situation die, daß insbesondere die Ortskrankenkasse (AOK) - der Meinungsführer bei den hiesigen Krankenkassen - sehr anachronistisch und reaktionär reagiert. Dort ist ein Funktionärskörper vorhanden, der sich innovationsfeindlich darbietet und der nicht bereit ist, Angebote der Ärztekammer wie zum Beispiel eine bewußte Kostensteuerung im Berliner Gesundheitswesen anzunehmen. Diese Innovationsunfähigkeit der AOK Berlin ist verantwortlich für die dort vorhandene Finanzierungskrise, aber auch für ein Stagnieren des Reformprozesses, der auf lokaler Ebene in Gang gesetzt werden könnte. Die Berliner Ärzteschaft ist mehrheitlich bereit, sich umzuorientieren und neue Wege für eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung zu gehen. Ich hoffe, daß sich innerhalb der AOK Berlin ein Umdenkungsprozeß breit macht und sich diese im Bundesdurchschnitt besonders reaktionäre Ortskrankenkasse zumindest an die Verhältnisse anpaßt, die wir heute schon in Stuttgart oder Hamburg haben. Dort haben sich die Ortskrankenkassen als Promotoren eines Refomprozesses erwiesen.

Interview: plu

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