: Die Vergangenheit, eine Rede und ihr Echo
Aus welchen Quellen speist sich die Aufregung, welche merkwürdigen Koalitionen finden sich zusammen bei Jenningers Rede zum Pogrom-Gedenken? ■ Von Martin Schmidt
Etwas Seltsames ist in Bonn passiert: Nicht nur bei den Grünen gab es eine flügelübergreifende gemeinsame Einschätzung einer Situation, nein, alle gutwilligen Demokraten von Grünen, SPD, FDP, ja, bis in die CDU hinein üben Kritik daran, daß Philipp Jenninger vom „Faszinosum“ der Erfolge der NS-Herrschaft in den Jahren 1933 bis 1938 und ihrer Wirkung auf das deutsche Volk spricht. Das zwingt Jenninger zum Rücktritt. Ist das ein Markstein der deutschen Demokratie, jetzt endlich die richtige „Bewältigung der Vergangenheit“? Ich glaube nicht daran, sondern sehe zwei Dinge, die eine solche Gemeinsamkeit aller Demokraten in einem schiefen Licht erscheinen lassen:
Stellen wir uns einmal vor, ein bei Linken, Grünen und anderen guten Menschen anerkannter Linker, Antifaschist oder gar Jude hätte diese Rede gehalten. Dann wäre niemand auf die Idee gekommen, der Redner identifiziere sich bei dem Versuch, das Denken der Mehrheit der Deutschen vom Jahr 1938 darzustellen mit diesem Denken. Weil es aber ein Vertreter einer Partei gesagt hat, die bekanntlich nicht viel für die „Bewältigung der Vergangenheit“ getan hat, deswegen darf von Journalisten, Historikern und Psychoanalytikern unterstellt werden, daß bei diesem Versuch „vom Bewußtsein Abgedrängtes zum Vorschein kommt“ (Paul Parin in der taz vom 12.11.), daß „der Antisemitismus auch in den Herzen vieler Mitglieder“ des Bundestags vorhanden ist (Frau Oesterle-Schwerin von den Grünen laut taz vom 11.11.) oder eben ganz plump, daß er noch viel mehr (nämlich Sympathie für die NS-Verbrecher) meint, es aber nicht offen ausspricht (so die taz vom 11.11.).
Solch eine Reaktion kann spontan beim Hören der Rede passieren (obwohl das ja nicht sein muß), beim zweiten Nachdenken wäre mehr zu erwarten. Ich habe die ganze Rede gelesen, und finde bis heute nicht den Schatten eines Beweises dafür, daß Jenninger die NS-Verbrechen verharmlost oder entschuldigt hat.
Ein Vorwurf, wie in der taz vom 11.11., Jenninger habe völkische, antisemitische Vorurteile referiert, ohne einen eigenen Standpunkt zu beziehen, unterstellt eben, daß dieser Standort bei Jenninger fraglich ist, und verlangt vom Redner, daß er fürs Publikum häufiger moralische Erkennungssignale ausstreut („Vorsicht, NS-Sprache!“ oder vielleicht nur „hört, hört!“).
Es ist auch nicht wahr, daß Jenninger das Klischee von der „verfolgenden Unschuld“ einfach wiederholt hat. Er hat zum Beispiel mit dem Gegenüberstellen des Berichts von der Ermordung der Juden und dem Text von Himmler diese „Unschuld“ in ihrer vollen Schrecklichkeit geschildert.
Die üblichen Veranstaltungen zum 9.November hatten ein ganz einfaches, eindeutiges Schema: Das Böse hatte im „Dritten Reich“ gesiegt, das wollen wir nicht nochmal, wir geloben, es nie wieder zuzulassen. Und um das ganz deutlich zu machen, wurden die Verbrechen der Nazis und ihrer Sympathisanten grundsätzlich von der Seite der Opfer her geschildert, für diese sympathieheischend. Dabei ist die moralische Bewertung klar, das Urteil über die Vergangenheit auch.
Für Linke, die sich in der Tradition des Antifaschismus fühlen, mag das ausreichen. Für die anderen, und das ist in Deutschland die Mehrheit, ist das kaum eine menschliche Möglichkeit. Denn für alle diejenigen, die nicht selbst gemordet oder denunziert oder zugeschlagen haben, also für die große Mehrheit der Deutschen, muß die Frage im Mittelpunkt stehen, warum sie die Taten der Nazis zugelassen, gebilligt haben. Und es gibt darauf zwei falsche Antworten: Zum einen die Behauptung, man sei prinzipiell unterdrückt gewesen, habe nichts machen können; zum anderen die Selbstbezichtigung, indem die Masse der „Mitläufer“ sich zu Verbrechern erklärt. Und Jenninger hat im Gegensatz zu vielen anderen Gedenkrednern nicht nur gesagt, daß Moral eindeutig ist und Auschwitz niemals vergessen werden wird und vergessen werden darf, sondern er hat auch, beschreibend bis ins Nachdenken, deutlich gemacht, daß und warum die Nazis jedenfalls bis 1938 unheimlich populär waren und daß dies ein wichtiger Grund dafür war, daß die Judenverfolgung von der Mehrheit des Volkes gebilligt wurde. Während ordentliche Gedenkredner das Wort „Reichskristallnacht“ verdammen, zeigt Jenninger auf, daß es nicht eine von oben aufgezwungene Sprachregelung ist, sondern „Volksmund“.
Damit aber ist er der Verstrickung auf der Spur, die erklärt werden muß, der Mischung von guten Absichten und schlimmen Texten. Und er ist näher an dem Erschrecken, das Ödipus erfaßt hat, als er bemerkt, daß er es war, der das Verderben herbeigeführt hat.
Ich vermute also eine seltene Einigkeit bei denen, die sich so über Jenninger empört haben: Die einen fühlten sich oder die Tradition ihrer politischen Richtung zu genau beschrieben, als daß sie es hätten hören können. Die anderen aber fürchteten den Einbruch des Zweideutigen in ein eindeutiges Weltbild.
Die dienstfertige Journaille der Bundesrepublik hat fast ausnahmslos ohne Nachdenken die Sprüche geliefert, die an dem Tag in Bonn herrschende Meinung waren. Dabei wurden Jenninger die Vorwürfe gemacht, die auch typisch sind für das herrschende politische System:
a. Das, was er gesagt habe, habe nicht in die Feierstunde gepaßt. Bei solchen Anlässen seien andere Reden angemessen (Daß auch Abgeordnete der Grünen, die sonst gern als Bilderstürmer auftreten, solche Ansichten vertreten, entbehrt nicht einer gewissen Komik).
Wenn damit mehr gemeint ist, als daß bei solchen Feierstunden nur blabla geheuchelt werden darf, dann ist dies der Vorwurf an Jenninger, die Geschichte nicht von den Opfern, sondern von den Tätern her beschrieben zu haben. Aber ist angesichts des massenhaften Versöhnungsangebots an die Opfer von Seiten der Täter (und der damit verbundenen falschen Rolle der Täter) Jenningers Argument nicht richtig, daß die Opfer selbst „nur zu genau wissen, was der November 1938 für ihren Leidensweg bedeutet hatte“ und daß es deswegen notwendig sei, daß die Nachkommen der „Täter“ sich zu ihrer Vergangenheit äußern?
b. Dann kommt das angesichts des rhetorischen Potentials des Deutschen Bundestags fast peinliche Argument, Herr Jenninger habe sein sonst vielleicht mögliches Anliegen rhetorisch sehr ungeschickt verpackt. Der berühmte Professor für Rhetorik aus Tübingen hat das auf seine Weise im ZDF so formuliert, daß man merkte, nur ein Walter Jens hätte das, was Jenninger vorhatte, hinkriegen können.
c. Als unerreichtes Vorbild wurde von den dem heutigen Zeitgeist gehorsamen Journalisten die Rede von Richard von Weizsäcker zum 8.Mai 1985 gegenübergestellt. Die hatte freilich alles, was die Bundesrepublik braucht: Moralisch unangreifbare Formulierungen, in denen sich jeder wiederfinden konnte, ohne daß es einem wehtat.
Es gibt an der Rede des Herrn Jenninger eine Menge zu kritisieren und viel darüber zu diskutieren. Aber das, was Jenninger am meisten vorgeworfen wird, nämlich die grauenvolle Normalität dargestellt zu haben, ist am wenigsten zu kritisieren. Wenn wir jemals erreichen wollen, daß die konservative Mehrheit des deutschen Volkes die NS -Zeit ernst nimmt und dann auch ihr Fortwirken bis heute, dann brauchen wir mehr Reden wie und freilich auch mehr als die Rede von Herrn Jenninger.
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