: Arbeitslose von Amts wegen geprellt
Arbeitsämter verschwiegen HilfeempfängerInnen ein für sie positives Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts / Arbeitslosenhilfe muß meist unabhängig vom Einkommen der Eltern gezahlt werden ■ Von Vera Gaserow
Berlin (taz) - Als die Richter des Bundessozialgerichts am 7.September dieses Jahres zur Entscheidung zusammenkamen, produzierten sie eine kleine Sensation, über die die taz am folgenden Tag als einzige Zeitung berichtete: Bei der Arbeitslosenhilfe, so urteilten die Bundesrichter in mehreren Grundsatzentscheidungen, darf das Einkommen von nahen Verwandten nicht wie bisher angerechnet werden. Die Arbeitslosenhilfe muß in der Regel elternunabhängig bewilligt werden, denn Eltern oder auch Kinder sind nicht unterhaltsverpflichtet für arbeitslose Familienangehörige, die sich zu recht weigern, jede beliebige Arbeit unterhalb der Zumutsbarkeitsgrenze anzunehmen, oder die durch eigenes Verschulden ihre Arbeitsstelle verloren haben. Ein bahnbrechendes Urteil für alle, die bisher beim Arbeitsamt zu kurz kamen oder leer ausgingen, weil sie erst ihre Eltern zur Kasse bitten sollten.
Doch Konsequenzen hatte der Richterspruch für die Betroffenen bisher kaum, denn in der Praxis ignorieren die meisten Arbeitsämter dieses Urteil, teilen es den Antragstellern nicht einmal mit. „Hier in Hamburg weiß man auf dem Arbeitsamt angeblich nichts von diesem Urteil“, beschwerten sich taz-LeserInnen. „Hier hat man zwar schon von einem solchen Urteil gehört, will es aber nicht anerkennen“, heißt es aus Westfalen. Auch in Baden -Württemberg weigern sich zahlreiche Arbeitsämter, dieses Urteil überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Zahlreiche Hilfeempfänger zweifelten schließlich daran, ob es diese Grundsatzentscheidung über die elternunabhängige Arbeitslosenhilfe überhaupt gegeben hat.
Wenigstens teilweise geht die irritierende Ahnungslosigkeit der Arbeitsämter auf das Konto der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit. Denn entgegen ersten Versprechungen hat sie erst gut fünf Wochen nach dem Urteilsspruch sämtliche Arbeitsämter in einem Runderlaß angewiesen, wie mit dem Urteil zu verfahren sei. Bis das Urteil schriftlich vorliege und vom Bundesarbeitsministerium ausgewertet worden sei, so hieß es in der Weisung aus Nürnberg vom 14.Oktober, solle bei der Arbeitslosenhilfe wie bisher das Einkommen der Eltern oder der Kinder mit angerechnet werden. Allerdings sei diese Regelung vorläufig, was auch den Hilfeempfängern mitgeteilt werden müsse, damit sie später Rückforderungen beim Arbeitsamt erheben könnten. Außerdem, so wies der Direktor der Bundesanstalt die Arbeitsämter weiter an, müßten sämtliche Antragsteller in einem einheitlichen Muster -Anschreiben auf das Urteil des Sozialgerichts und auf die Vorläufigkeit der jetzigen Einbeziehung des Elterneinkommens hingewiesen werden.
Nicht einmal zwei Monate nach der Entscheidung zugunsten der Arbeitslosenhilfe-Empfänger ist dieser Runderlaß in sämtliche Arbeitsamtsstuben vorgedrungen, und etliche Arbeitslose gehen nichtsahnend ohne die ihnen zustehenden Leistungen nach Hause. Über endgültige Konsequenzen aus dem Richterspruch wollen Bundesarbeitsministerium und Bundesanstalt für Arbeit Anfang Dezember in einer gemeinsamen Sitzung entscheiden. In Blüms Ministerium denkt man zur Zeit über eine Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes oder entsprechender Verordnungen nach. Ob es dabei zu einer für die Arbeitslosen sehr freizügigen Lösung kommt oder zu einer eher restriktiven Novellierung, sei - so die Sprecherin des Ministeriums „auch eine finanzielle Frage“.
(AZ des Bundessozialgerichtsurteils: 11/RAr 25/88)
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