: Über das Hören
■ Die Poesie der Stimme. Mit Tonbeispielen / Ria Endres las Donnerstag im Ambiente zu Samuel Becketts Werk
Ich sitze im Auto, im Stau, es ist schon nach acht, Ria Endres liest. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie im Ambiente sitzt, umringt von Zuhörern, und vorträgt über das Hören; ich versuche mir ihre Stimme vorzustellen, den Klang, die Färbung. Und dann die Hörer, die ja nicht nur hören, sondern zugleich hören, was sie hören.
Während ich mir so imaginiere, was ich nicht höre, drehe ich nervös am Radioknopf, höre ein bißchen ins Kriminalhörspiel hinein, in dem ein Mann gerade darüber sinniert, daß einer, der einen Menschen umbringt, ein Verbrecher, einer, der zehn Menschen umbringt, jedoch ein Psychopath ist. Ich drehe weiter, sitze akustisch in einer Kölner Wohnung: da erzählt ein Ghanese von seinem Land, der Musik; auch er hat Tonbeispiele mitge
bracht. Da höre ich schon nicht mehr hin, ich bin beim Ambiente.
Drinnen: Eine zarte, rothaarige Frau hinterm Tresen liest und an vielleicht sechs Tischen sitzen fünfzehn Zuhörer, still, konzentriert, ein winziges Häuflein. Die Poesie der Stimme, Ria Endres ist ihr in Samuel Becketts Stücken auf der Spur, in deren akustischem Raum. Wer sich in die Beckettsche Sprache begibt, vergißt sie nie mehr, sagt sie, und beginnt Namen aus Becketts Stücken vorzusagen, und je länger sie die Namen aufsagt, um so stärker fügen sie sich zu einem Text mit einem ganz besonderen Klang. Ria Endres erzählt, daß bei Beckett sich die Stimmen von Stück zu Stück immer stärker vom Körper trennen, bis der Körper ganz erlischt. Sie erzählt vom Sprechen nahe der Trennungslinie zum Schweigen, und - nein, belegt nicht, führt ihre Gedanken weiter mit Tonaufnahmen von Becketts Stücken. Diese meist leicht rauschend verzerrten Stimmen vom Band mit ihren angefangenen Dialogen nehmen mich so gefangen, daß ich sie noch immer zu hören meine, wenn Ria Endres bereits eine Spirale weiter ist, beim Vergehen der Zeit, der Bedeutung von Glocken, Weckern, bei den präzisen Zeitangaben.
Mein Hören hinkt hinterher, verliert sich im Klang. Auf seltsame Weise bleiben die Sätze hängen. „So ist die Zeit vergangen. Die wäre sowieso vergangen. Aber langsamer“.
Christine Spiess
Ria Endres (1946) studierte Germanistik, Philosophie, Geschichte. Lebt in Frankfurt als Schriftstellerin. „Am Anfang war die Stimme.“ (Essay 1986).
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