: BVG ohne Tradition
■ BVG hält Anlehnung an Reichsbahn-Tradition des S-Bahn-Weihnachtszuges für unzeitgemäß
Pläne von S-Bahnern der BVG, an den Samstagen vor Weihnachten wieder wie im Vorjahr einen mit Tannenzweigen geschmückten Weihnachtszug auf der Linie S 3 rollen zu lassen, sind jetzt am Veto der Hauptabteilung Bahnen des Eigenbetriebes gescheitert. Hauptgrund für die Absage seien die Bauarbeiten auf der Stadtbahnstrecke zwischen Tiergarten und Charlottenburg gewesen, sagte BVG-Sprecher Hecht. Auf der Großbaustelle bereite es schon genug Probleme, den Zugverkehr pendelweise wenigstens im 20-Minuten-Abstand aufrechtzuerhalten. Die hilfsweise von den S-Bahnern angebotene Lösung, den Weihnachtszug zwischen Wannsee und Charlottenburg einzusetzen, habe sich wegen der momentanen Erneuerung der Bahnsteige auf dem Bahnhof Wannsee auch nicht als praktikabel erwiesen.
Demgegenüber hielten die beteiligten S-Bahner die genannten technischen und organisatorischen Gründe der Ablehnung für nur vorgeschoben. Sie sprachen enttäuscht von einer „generellen Unwilligkeit“ der BVG, die Tradition der Reichsbahn (bis Januar 1984 stand die Westberliner S-Bahn bekanntlich unter der Verwaltung der Ostberliner Reichsbahn -Direktion) fortleben zu lassen. In diesem Sinne äußerte sich auch Hecht. Eine Anlehnung an frühere Reichsbahn -Verhältnisse zweckentfremde die ganze Sache. Man müsse nicht ein ganzes Leben an „alten Dingen“ festhalten. Ob es überhaupt noch einmal einen Weihnachtszug geben werde, bezeichnete der BVG-Sprecher als fraglich.
Letztes Jahr hatten einige Triebfahrzeugführer den Zug in einer Schleife zwischen Wannsee und Lehrter Stadtbahnhof in ihrer dienstfreien Zeit kutschiert. Fahrgäste, die mit einem normalen BVG-Fahrschein zusteigen konnten, wurden mit weihnachtlichen Weisen vom Kassettenrekorder empfangen. (Folter inner S-Bahn! d. säzzer) Zur Freude der Kinder verteilte ein Weihnachtsmann kleine Geschenke. Neben allerlei nostalgischen S-Bahn-Souvenirs verkauften die Eisenbahner zur Deckung der Kosten für die Dekoration auch Kaffee und Kuchen. (Hei, welch ein Spaß beim ruckartigen Anfahren oder Bremsen! d. säzzer) Was diesen Service anbelangt, machten Bürokraten bei der BVG-Hauptverwaltung schon im Vorfeld der gescheiterten Verhandlungen Schwierigkeiten. Sie verlangten von den Organisatoren erst mal ein amtliches Gesundheitszeugnis.
Nach dem Bericht eines alten Reichsbahners gab es schon Mitte der fünfziger Jahre bei der S-Bahn einen speziell ausgestalteten Weihnachtszug, der Kinder von Eisenbahnern des Betriebswerks Papestraße zu Weihnachtsfeiern nach Ost -Berlin brachte. Er wurde ab 1957 von dem Betriebswerk gestellt und dort an allen Seiten - und den Stirnfenstern mit weihnachtlichen Motiven, Märchen- und Sagengestalten bemalt. Hinzu kamen noch bunte Glühlampenketten und Tannenzweige im Fahrgastraum. (Huch, wie gruselig! d. säzzer) Als es noch Triebwagenschaffner gab, wurde die hübscheste Schaffnerin als Engel verkleidet. Eine für die damaligen Verhältnisse typische Episode schildert der Ex -Reichsbahner Peter Buchmann in dem 1982 erschienenen Ausstellungskatalog „Die Berliner S-Bahn“: Da angeblich zu viele der Sagengestalten ein „westliches Aussehen“ hatten, durfte der Zug nach der Kontrolle durch einen Betriebsleiter in diesem Zustand in Ost-Berlin nicht eingesetzt werden. Buchmann: „Erst als im Betriebswerk Friedrichsfelde die Scheiben neu gestaltet waren, gab es freie Fahrt für den Weihnachtszug!“ Dieses Ereignis trug laut Buchmann dazu bei, daß der Zug in den folgenden Jahren nicht mehr geschmückt wurde. Der letzte sei 1979 im normalen Fahrplan gefahren. Die Reichsbahn habe seinerzeit durch die äußere Erscheinungsform des Zuges Arbeitskräfte und Lehrlinge für die S-Bahn werben wollen.
Thomas Knauf
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