: REISENDE ALS FRIEDENSSTIFTER?
■ Der Normal-Tourist und die Ost-West-Beziehung / Eine Tagung in der Akademie Tutzing
Wer mag daran zweifeln, daß wenn der bundesdeutsche Außenminister in eine osteuropäische Hauptstadt reist, er einen Beitrag zum Frieden leistet? Wie sieht es aber mit den „Normal„-Touristen aus, die gen Westen oder Osten reisen? Ob der Tourismus zwischen West und Ost einen Beitrag zum Frieden bzw. der Verständigung leisten kann, ging kürzlich eine Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing nach.
Schon der Begriff wirft Fragen auf. Ist ein Badeurlaub am Mittelmeer mit einer Studienreise nach Polen überhaupt zu vergleichen? Zwar konnten auch in Tutzing keine konkreten Zahlen angegeben werden, doch wird davon ausgegangen, daß rund 90 Prozent der Einreisenden aus Westeuropa in RGW -Länder nicht als eigentliche Touristen gelten, da sie entweder Wochenendurlauber, Geschäftsreisende oder Teilnehmer von Gewerkschafts- und Schülerreisen sind.
Vor allem die letzten beiden Personengruppen machen das Gros aus, von den Verwandtschaftsbesuchen einmal abgesehen. Sie verstehen ihre Reisen als Aufarbeitung der Vergangenheit und wollen damit die Verständigung zwischen den beiden unterschiedlichen Gesellschaftssystemen fördern.
„Das Bewußtsein über diese Funktion und die damit verknüpfte politische Verantwortung ist allerdings unterentwickelt“, stellte Norbert Ropers von der „Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung“ (HSFK) fest. Der Friedensforscher, der sich mit der Wechselwirkung zwischen Tourismus und Frieden beschäftigt, sieht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der politischen Großwetterlage und der Entwicklung des touristischen Verkehrs: als Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre die Beziehungen der beiden Supermächte infolge des NATO -Doppelbeschlusses und des Einmarsches der Sowjetunion in Afghanistan sich rapide verschlechterten, sank auch die Zahl der Ein- und Ausreisen nach West und Ost.
Die engen verwandtschaftlichen Bindungen zwischen den beiden deutschen Staaten, und der damit verbundene Reiseverkehr, habe jedoch verhindert, daß diese Abkühlung „voll durchschlug“ (zumindest in bezug auf die BRD und DDR).
Um so mehr der Tourismus also ausgebaut wird, um so besser für den Frieden? Doch dieser blockverbindenen Begegnung stehen noch einige Hürden im Wege. So wurden infolge der Blockbildung nach dem Zweiten Weltkrieg die traditionell entstandenen Ost-West-Achsen der Verkehrswege praktisch gekappt. Waren früher Nord-Süd- und Ost-West-Achsen in Europa relativ ausgewogen, so gibt es jetzt innerhalb der beiden Hälften Europas vorwiegend Nord-Süd-Achsen. Dies erleichtert nicht gerade den Verkehr zwischen Ost und West.
Aber auch andere Gründe sind für einen (im ganzen) nur schwachen Touristenaustausch verantwortlich. So sind die Botschaften einiger RGW-Länder in Bonn wesentlich schneller mit der Ausstellung von Visas als umgekehrt die bundesdeutschen Botschaften in osteuropäischen Hauptstädten. Vor diesen bilden sich unterdessen lange Menschenschlangen (wie im Sommer dieses Jahres). Lothar Wittmann, für Kulturfragen zuständiger Ministerialdirigent im Auswärtigen Amt, mochte sich damit herausreden, daß das AA „keine Personalreserven“ habe, um das Botschaftspersonal aufzustocken. Dezent verwies er jedoch an den eigentlichen Verantwortlichen: für die restriktive Einreisepolitik ist nämlich das (CSU-geführte) Innenministerium zuständig.
Seinen Unmut über die Visapflicht äußerte denn auch der Leiter des ungarischen Fremdenverkehrsamtes in Frankfurt, Istvan Meggyes. Dessen Regierung schlug der Bundesregierung vor, die Visapflicht zwischen beiden Ländern abzuschaffen. Mit dem Verweis auf die EG holte sich Budapest jedoch eine Abfuhr. Über eine Abschaffung der Visapflicht müßte erst einmal innerhalb der EG Einigkeit erzielt werden.
Daß sich an der Haltung der Bundesregierung nicht allzubald etwas ändern wird, belegen die Tendenzen, die im Touristenverkehr zu erkennen sind. So hat sich die lange vorherrschende Assymetrie zugunsten der Einreisen von West nach Ost für einzelne Länder inzwischen umgekehrt. Werden die Ausreisen in Relation zur Gesamtbevölkerung gesetzt, reisen zum Beispiel mittlerweile mehr Polen in die Bundesrepublik als Bundesdeutsche nach Polen. Die gleiche Tendenz ist in Ungarn zu beobachten, wobei die Ungarn jedoch mehr nach Österreich reisen.
Überhaupt liegt das Schwergewicht des west-östlichen Reiseverkehrs in den zentraleuropäischen Ländern (Bundesrepublik, DDR, CSSR, Ungarn, Polen und Österreich). An erster Stelle steht dabei der deutsch-deutsche Verkehr. 1987 wurden über sechs Millionen Reisen in west-ostdeutscher Richtung und 2,8 Millionen Reisen in ost-westdeutscher Richtung verzeichnet.
Eine bemerkenswerte These trug der Pole Olaf Rogalewski in Tutzing vor. Er sieht den Tourismus zwischen Ost und West in „entscheidender Weise“ für die Öffnung in der Sowjetunion verantwortlich. Die reisende SU-Elite habe bei ihren Reisen die „Realitäten“ in der Welt gesehen, und damit Glasnost und Perestroika den Nährboden bereitet. Nicht ganz unwahrscheinlich. Zumindest Raissa Gorbatschowa hat mit ihren Besuchen bei Pariser Modeschöpfern ein Stück „modische Realität“ in der Sowjetunion kultiviert.
Marc Fritzler
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