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Es war einmal in Amerika...

1.000 Seiten feministische Generationssaga: Marilyn Frenchs neuer Roman „Tochter ihrer Mutter“  ■  Von Maria Neef-Uthoff

Ach, Anastasia, so ist es nun. Da hast du versucht, alles richtig zu machen, aber was ist? Nix ist. Deine Kinder finden dich blöd, deine Mutter versteht dich nicht, die Oma ist tot. Nein, Anastasia, das Leben ist wirklich die Härte. Aber trotzdem: Kopf hoch. Zum Schluß hast du wenigstens wieder jemanden an deiner Seite, wenn auch nur 'ne Frau, Anastasia, denn eigentlich, sagst du, hast du Frauen immer verachtet.

Anastasia ist die „Tochter ihrer Mutter“, die Protagonistin in Marilyn Frenchs neuem Roman. Ein merkwürdiges Buch. Fast so wie ein Mensch, der einen nicht interessiert, der aber aus irgendwelchen Gründen doch da ist, da bleibt, den man kennenlernt, langsam, und irgendwann anfängt zu mögen. Obwohl einem die Fehler sämtlich auf die Nerven fallen.

So ein Buch hat Marilyn French geschrieben. Es ist ein Buch voller Mängel. Es ist zu lang: 998 Seiten. Es ist zusammengestückelt. Tagebücher und Kommentare der Ich -Erzählerin Anastasia, die eigentlich Marilyn heißen müßte, sind in die Familiengeschichte hineingestapelt. Es steckt voller Weisheiten, die heutzutage fast jede weiß. Aber ab und zu verblüfft es durch haarscharfe Beobachtung und Analyse. Trotzdem ist es so besonders, daß man nicht einfach darüber weggehen darf. M.F. hat sich Mühe gemacht, über ihre Großmutter, ihre Mutter und ihre Töchter und sich selbst einen Roman zu verfassen. Veröffentlicht wurde das Werk ein Jahr nach dem Tod der Mutter. Das Leben dieser Personen ist in keiner Weise bedeutend. Es sind, im Gegenteil, arme Leute, EinwanderInnen aus Polen, die es nach und nach zu ein bißchen Wohlstand bringen. Sie selbst sind so fehlerhaft, so mangelhaft in ihren Gefühlsäußerungen, so vom alltäglichen Leiden geprägt, daß ihnen wenig Möglichkeit bleibt, ihre Kinder davor zu verschonen.

Auf eine sehr zärtliche Weise versucht Anastasia die Umstände zu verstehen und die Lieblosigkeit einzuordnen. Sie jedenfalls wollte es ganz anders machen, richtig wollte sie es machen, besser, niemals so leiden wie sie es von den Frauen ihrer Familie gesehen hat. Aber auf einmal, mit fünfzig, geht es bei ihr auch los. Auf einmal, wenn auch wohlhabender als ihre Mutter und Großmutter, wird sie depressiv, wird unfähig, eine Arbeit zu machen, ihr Organismus streikt.

In vielen Gesprächen mit ihrer Mutter geht sie den Ursachen nach, sucht sie die Wurzeln: „Deprimiert, daß ich nicht lache! Was sollte ich denn sonst sein? Ich, die ich ausbaden muß, eine Großmutter gehabt zu haben, die am Kummer gestorben ist, und eine Mutter, die nicht daran gestorben ist. Ich vereine sie beide in meiner Person, eine lebende Inkarnation des Leidens, eine Salzsäule, ein untröstliches, unzerstörbares Monument des Schmerzes, ein Stein wie Niobe, zu hart für Tränen.“ Und sie kommt zu dem Schluß: „Die Wahrheit ist: Nicht die Sünden der Väter gehen bis ins dritte Glied, sondern die Leiden der Mütter.“

Man wagt das gar

nicht anzuzweifeln

Frances, die Großmutter, kam mit 13 nach Amerika. Allein. Sie lebte bei einer Tante und heiratete schnell. Der Mann war brutal und soff. Er schlug Frau und Kinder, hatte aber eine gutgehende Schneiderei, und als er früh starb, blieb nichts davon übrig.

Belle ist die Tochter von Frances. „Meine Momma war eine Heilige“, sagt Belle. Aber sie wurde wegen der anderen drei Kinder vernachlässigt und weil Frances in die Fabrik mußte. Die anderen drei Kinder waren im Waisenhaus und Belle mußte schnell groß werden, damit die anderen aus dem Waisenhaus kommen konnten.

Niemand kümmerte sich um Belles Schule. Daß sie schwerhörig war und nicht dumm, merkte niemand. Stattdessen kochte sie ihrer Mutter das Essen. Damit konnte sie ihr wenigstens ein Lächeln abringen.

Als Belle selber Kinder hat, Anastasia und Joy, legt sie Woche für Woche einen Dollar zurück, für die Schule. „Belles unausgesprochener Zorn hing bei uns zu Hause in der Luft wie der Geruch von vor Tagen gebratenem Speck, kalt, fettig, muffig.“ Zehn Jahre lang macht sie in Heimarbeit Hauben. Ihre Finger sind ständig wund und von Heftpflaster beklebt.

Anastasia lehnt sich auf. Gegen die „blutigen Nabelschnüre“. Die halten sie trotzdem fest, weil sie Schuldgefühl und Mangel an Liebe transportieren. „Obwohl ich ihre Mühen und Opfer zutiefst dankbar, wenn auch wortlos annahm, wirkten sie gleichzeitig abstoßend auf mich, wich ich mit einer Art Entsetzen davor zurück, wollte ich es nicht sehen, wollte ich nicht darum bitten müssen, wollte ich das Schuldgefühl nicht spüren müssen, das in mir aufwallte, wie Anfälle von fliegender Hitze, so oft ich an sie dachte.“ Dann sieht es so aus, als hätte Anastasia es geschafft.

Aus Anastasia wird die fesche Stacey Stevens, die Fotografin. Sie ist wild, modern, gesellig. Aber sie hat Kinder. Die verheimlicht sie vor ihren Auftraggebern. So darf sie weite Reisen machen. Vieles an Stacey Stevens bleibt unhinterfragt. Gerade in der Beschreibung ihres wilden (Sexual)-Lebens hört man noch immer den Stolz der Autorin heraus, auf soviel Männer so anziehend gewirkt zu haben.

Zwar geht sie kritisch und erbarmungslos über die Männer her: „Es ist wirklich sonderbar, daß Männer glauben, sie hätten ein Recht, das Aussehen einer Frau unverblümt zu kritisieren.

Frauen gehen doch auch nicht herum und erzählen den Männern, daß sie zu fett werden, sie sagen nicht, daß sie ein Deo benutzen sollen, sie sagen ihnen nicht, daß sie sich mit Eigelb bekleckert haben oder ihnen Spinat zwischen den Zähnen hängt.“ Doch an anderer Stelle sagt sie stolz über sich selbst: „Ich war konstruiert wie ein Mann.“

An solchen Stellen, und davon gibt es zahlreiche, vermißt man schmerzlich einen gewissen Anstandsabstand der Autorin. Obwohl später zu lesen ist, und das verwöhnt einen wieder, daß spontaner Sex so lange gut ist, bis der Aufwand sich eines Tages nicht mehr lohne, bis sie einem Mann ansehen kann, welche Verletzungen er ihr zufügen wird.

Da kann man nur sagen, schade, daß sie es nicht früher gemerkt hat. Es ist ein Bericht über die Müdigkeit am Frauenleben, das nichts anderes hat als den Alltag. Über die verkorkste Liebe von Töchtern zu ihren Müttern und umgekehrt. Über den Mißbrauch der Mütter an den Töchtern aus Mangel an einem besseren Leben. Anastasia ist am Ende des Buches 56 Jahre alt. „Als ich mich das letzte Mal, gestern, von ihr (Belle, d.Red.) verabschiedete, hielt ich sie lange in den Armen, küßte sie auf die Schläfe. Sie sah mich an. Sie sagte: „Ich werde nie vergessen, wie lieb du zu mir warst. Das ist mehr, als sie mir je gegeben hat. Es ist das Äußerste, was ich erwarten kann.“

Zehn Jahre zu spät ist dieser Roman auf dem Markt. Im schlechtesten und im besten Sinne ein feministisches Buch. Damals hätte es ein Kultbuch werden können.

Marilyn French, Tochter ihrer Mutter. Deutsch von Cornelia Holfelder von der Tann und Gesine Strempel, Rowohlt, DM 48, -.

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