piwik no script img

Biblis: Alle hielten dicht

Auch SPD-Länder waren durch Rundschreiben über den Biblis-Störfall unterrichtet / Grüne prangern Große Koalition der Vertuschung an / Rücktritt von Hessens Umweltminister Weimar und Biblis-Abschaltung gefordert  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

In die Allianz des Schweigens über den Biblis-Störfall waren die Atom-Behörden sämtlicher Bundesländer verstrickt. Auf einer Sitzung des Bund-Länder-Arbeitskreises „Aufsicht Reaktorbetrieb“ am 28. April, an der die Referenten der Umweltministerien teilnahmen, sei klar geworden, daß es sich bei dem Biblis-Störfall vom zurückliegenden Dezember um „einen gravierenderen Fall“ handele, sagte gestern der Sprecher der Töpfer-Behörde in Bonn. Damals war dieser Störfall allerdings noch in der untersten Kategorie „N“ angesiedelt gewesen, und es wurde durch die Hessen „routinemäßig“ darüber berichtet. Selbst wenn die Länder -Referenten am 28.4. das „Gravierende“ in diesen Informationen noch nicht geschnallt haben, mußten spätestens am 16. Mai in den Länderbehörden die Alarmglocken klingeln: Denn an diesem Tag erreichte sämtliche Aufsichtsbehörden sowie die Betreiber und andere Sachverständige die Meldung der Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS), die im Bundesauftrag zur Überprüfung dieser Reaktor-Linie aufforderte. Derartige GRS-Nachrichten gibt es laut Töpfer -Behörde wiederum nur in „gravierenden Fällen“. Anfang Juli folgte das Protokoll der Arbeitskreissitzung vom April an die Länder, worin auf die nun bereits erfolgte GRS-Meldung noch einmal Bezug genommen wurde. Anläßlich einer weiteren Sitzung des Bund-Länder-Arbeitskreises war der Fall Biblis erneut Thema - diesmal, nachdem er nun am 2. September offiziell in die höhere Störfall-Kategorie „Eilt“ eingestuft worden war. Der hessische Grünen-Fraktionsvorsitzende Fischer nannte es gestern einen „unglaublichen Vorgang“, daß nicht nur die SPD-Länder, sondern auch die direkten Biblis -Anrainer Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz „die Schnauze gehalten“ hätten. Sein Bonner Kollege Lippelt sprach von einer „Verschwörung der nuklearen Gemeinschaft“. Daß der Biblis-Betreiber RWE den Störfall nur in der Kategorie „N“ angezeigt habe, sei nicht nur eine „arglistige Täuschung“, sondern ein eklatanter Verstoß gegen die vom Atomgesetz geforderte Zuverlässigkeit von Betreibern. Dem RWE müsse deshalb die Betriebsgenehmigung entzogen werden, ... fordern die Grünen. Die Fraktionen in Bonn und Wiesbaden beantragten, die Untersuchungsaufträge der jeweiligen Transnuklear-Untersuchungsauschüsse auf das Thema Biblis zu erweitern.

Weimar ging offenkundig bereits am Donnerstag vergangener Woche davon aus, daß die Biblis-Enthüllung durch das amerikanische Fachblatt 'nucleonics week‘ nicht mehr zu verhindern ist: Für den gestrigen Dienstag hatte er eine Pressekonferenz anberaumt, um die Nachrüstungen in Biblis als sicherheitserhöhende Maßnahmen zu verkaufen. Nachdem der Vorsitzende der Reaktorsicherheitskommission, Birkhofer, am Montag behauptet hatte, es seien nicht nur im Fall Biblis, sondern bereits „mehrfach“ technische Veränderungen und Änderungen in den Betriebshandbüchern nach Störfällen erfolgt, hieß es dazu gestern in der Töpfer-Behörde, die Betriebshandbücher würden nach Störfällen „andauernd“ geändert; dazu gebe es einen „Redaktionsausschuß“ der Betreiber.

Während in Bonn die Mitwisserschaft der SPD-regierten Länder nicht mehr zu verheimlich war, verlangte die SPD -Fraktion im hessischen Landtag die sofortige Stillegung des Pannen-Reaktors bis zum Abschluß einer Sicherheitsüberprüfung durch eine Kommission unabhängiger Sachverständiger. Der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel sprach von einem „sehr realen“ und nicht nur theoretischen Restrisiko in Biblis.

Der hessische Umweltminister Weimar, den SPD und Grüne zum Rücktritt aufforderten, versuchte seinerseits die Schuld auf den Betreiber-Konzern RWE abzuwälzen. Der Grad der Gefährdung in der Nacht vom 16. zum 17. Dezember 1987 sei vom RWE erst nach Wochen und Monaten richtig eingeordnet worden. Die Betreiberfirma „hat uns dieses nicht so gemeldet, wie es damals hätte eingestuft werden müssen“, beteuerte der Minister. Außerdem wäre es Sache des RWE gewesen, die Öffentlichkeit zu informieren.

Die Belegschaft des Atommeilers in Biblis ist sich unterdessen keiner Schuld bewußt. „Für uns war es ein ganz normaler Störfall der Kategorie N, der ordnungsgemäß behoben und weitergemeldet wurde“, hieß es gestern gegenüber der taz. Das Bedienungspersonal fühle sich nicht betroffen von dem Vorwurf, ein Warnsignal 17 Stunden lang übersehen zu haben. „Ach wissen Sie, das sieht jetzt so aus, als wenn da irgendwo eine Lampe aufleuchtet. Tatsächlich wechseln sich während des Anfahrbetriebs des Reaktors 5.000 Meldungen ab. Manche sind mit Prioritäten versehen, diese war es nicht. So was passiert schon mal. Aber wir haben den Reaktor dann ja auch runtergefahren und den Schaden behoben.“ Es bestehe deshalb kein Anlaß zur Aufregung.

Unterdessen erklärte in Washington der Sprecher der Kommission für Reaktorsicherheit (NRC) der US-Regierung, seine Kommission habe sich bereits vor einer Woche in nichtöffentlicher Sitzung mit dem Beinahe-Unfall von Biblis beschäftigt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen