: Kopfwunden, Fleischstiche, Kulturrisse
■ 37jähriger stach Frau und Schwiegermutter nieder / Eifersuchts-Phantasien eines Uneifersüchtigen / „Mein Mann ist ein Engel“: Opfer bitten um Freispruch für den Täter / Staatsanwaltschaft fordert 4 1/2 Jahre Haft
Kultur eins: Ortsverluste/Zeit dehnungen. Der Angeklagte berichtet von irgendwo und irgendwann. Als Zeugenaussage fängt seine Geschichte einfach an. Wie ein moderner Roman, ohne Hierarchien des Sinns, der Bedeutung, der Zeit von innerer Wahrnehmung und äußeren Tatbeständen. Einmal hat ihm das Essen nicht geschmeckt, mag sein, sechs Jahre bevor er seine Frau mit dem Messer niederstach, mag sein, Sekunden davor. Einen Hinweis auf Ort, Zeit und Grund enthält seine Erzählung nicht. Kein Hinweis, wo irgendwann irgendwo er erst Wodka kaufte und anschließend drei Flachmänner, wann der Fernseher aus der Wohnung verschwand und dafür fremde Männerunterwäsche in seinem Bett lag, wann er das Messer seines Arbeitgbers, des Bremer Wurstwaren-Herstellers Könnecke, in die Aktentasche packte, um es irgendwann in eine private Fleischkonserve und irgendwann später in seine Schwiegermutter und seine Ehefrau zu stecken. Alles ist gleich wichtig, alles scheint simultan stattzufinden oder schon immer so gewesen zu sein. Alles ist irgendwie schrecklich verdächtig und gleichzeitig schrecklich unverdächtig: Die plötzliche Telefon
rechnung über 780 Mark, der Krankenhausaufenthalt seiner Frau mit Abendkleid im Köfferchen. Der Tag, an dem er Zigaretten in ihrer Handtasche suchte und die Pille fand sechs Monate nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Irgendwann endet die Erzählung von nächtlichen Irrfahrten durch die Stadt, Nächten auf Parkbänken, Appetitlosigkeit und Eifersuchtsrecherchen: „Ich wachte auf, wollte mich duschen, Kaffee kochen und zur Arbeit gehen. Da merkte ich, daß ich in einer Gefängniszelle war.“
Die sieben Messerstiche, die seine Frau getroffen hatten, waren überhaupt nicht vorgekommen. Der Schein der Erzählung trügt. Der Angeklagte hat nicht Jahre seines Lebens erzählt, sondern die Chronik dreier Tage. Der Erzähler ist Ali. C., seit 1981 in der Bundesrepublik, angeklagt wegen versuchten Totschlags in zwei Fällen.
Kultur zwei: Normverschiebungen/Orientierungslosigkeit. Frau Gül C. ist in der Bundesrepublik groß geworden. „Europäisch erzogen“, sagt Ali C. und meint damit: sie färbte sich die Haare, trug hot pants und Bikinis, ging in Diskos und besuchte Freunde und Freundinnen.
1980 heiraten beide. Die
„Fremdheit“ seiner Frau hat Ali C. angeblich nie etwas ausgemacht. „Ich habe sie geliebt. Sie hat mich nur benutzt, um ihrem strengen Elternhaus zu entkommen. Ich habe ihr nie Vorschriften gemacht, ich habe ihr nie etwas verboten.“ Er erzählt das, als sei es eine Meisterleistung, aber von einem, der einen Kampf gar nicht erst aufgenommen hat, weil er wußte, daß er ihn ohnehin verlieren würde, und im Nachhinein stolz ist über die stoische Haltung, in der er sein Schicksal widerstandslos hinnahm.
Im Juni 1988 trifft Ali C. seine
Frau mit einem Messer des Fleischwarenproduzenten Könnecke sieben Mal in Arme, Brust und Bauch. Am 7. Dezember 1988 will die Zeugin Gül vor Gericht nicht aussagen. Sie hat nur eine Bitte an das Gericht: „Bitte bestrafen Sie meinen Mann nicht“. Vor den Messerstichen hatte Gül C. bereits die Scheidung eingereicht. Nach 10tägigem Krankenhausaufenthalt zieht sie die Scheidungsklage zurück. In der Untersuchungshaft besucht sie ihren Mann wöchentlich. Auf den Gerichtsfluren erzählt sie: „Mein Mann ist ein Engel.“
Auch seine Schwiegermutter hat C. mit dem Messer schwer verletzt. Auch sie hat 10 Tage im Krankenhaus verbracht. Auch sie macht von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Auch sie hat eine Bitte an das Gericht: „Bitte bestrafen Sie meinen Schwiegersohn nicht.“
Kultur drei: Schwäche, stark attestiert. Der Psychiater hält Ali C. für einen labilen Menschen. Seine Grundstimmung, verzweifelt, seine Reaktionen auf Schwierigkeiten: Ausweichbewegungen, Flucht in den Alkohol. Die Abhängigkeit von seiner
Frau: groß, vergrößert durch die eigene Orientierungslosigkeit in einer Kultur, in die er zu spät gekommen ist.Zur Tatzeit stand Ali C. stark unter Alkoholeinfluß. Sein Schuldfähigkeit ist erheblich eingeschränkt.
Kultur vier: Sühne, Prävention, Rechtsstaats-Verteidigung: Staatsanwältin Düßmann ist sicher, Ali C. hätte den Tod seiner Frau und seiner Schwiegermutter zumindest „billigend in Kauf genommen“. Er soll deshalb viereinhalb Jahre ins Gefängnis. Heute entscheidet das Gericht.
K.S.
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