Was Sie schon immer über Störfälle wissen wollten

„Wenn ein Besucher im Kernkraftwerk eine Bierdose an die Wand wirft, müssen wir das dann öffentlich melden?“ Heinz -Josef Franken, Pressesprecher beim Energiekonzern und Biblis-Betreiber RWE, steht nach dem Biblis-Störfall, der ein Jahr lang im Dunkeln blieb, unter Druck. Er will „ganz gewiß nichts herunterspielen“, aber soll der Konzern wirklich jedes Vorkommnis öffentlich machen? Er soll. Denn die bisherige Praxis der öffentlichen Information, ausschließlich freiwillige Sache der Betreiber und meist als Beruhigungspille verpackt („keine Gefahr für die Bevölkerung“), kann niemanden zufriedenstellen.

Störfälle müssen zunächst vom Betreiber klassifiziert und anschließend der Atomaufsicht gemeldet werden. Kein unabhängiger Experte, sondern die Betreiber selbst beurteilen das Ausmaß des Störfalls. Wendet man diese Praxis auf den Straßenverkehr an, würde künftig nicht die Polizei, sondern der Unfallverursacher Hergang und Ausmaß des Unfalls amtlich aufnehmen.

Es gibt für die Betreiber drei Kategorien von Störfällen: „N“ für Normalmeldungen, „E“ für Eilmeldungen und „S“ für Sofortmeldungen. Vereinfachend kann man auch von allgemeinen, wichtigen und schweren Störfällen sprechen. Die offizielle Definition sieht so aus: „N„-Vorkommnisse sind „von allgemeiner sicherheitstechnischer Bedeutung, die über routinemäßige Ereignisse hinausgehen“. Sie müssen innerhalb von fünf Tagen der Aufsichtsbehörde mitgeteilt werden. „E„ -Vorkommnisse sind „sicherheitstechnisch bedeutend, erfordern aber keine Sofortmaßnahmen der Aufsichtsbehörde“. Sie müssen innerhalb eines Tages der Aufsichtsbehörde mitgeteilt werden. Bleiben die „S„-Vorkommnisse, die „akute sicherheitstechnische Mängel“ offenbaren und der Behörde „sofort“ gemeldet werden müssen.

Zur Erinnerung: Der Biblis-Störfall mit einem defekten Ventil und einer 15 Stunden lang ignorierten Warnanzeige sowie anschließender Notabschaltung des AKW wurde als „N„ -Fall gemeldet und erst Monate später von der Gesellschaft für Reaktorsicherheit zum „E„-Fall befördert.

Im Jahr 1986 wurden 334 „Vorkommnisse“ registriert, davon fielen 325 unter „N“, neun unter „E“, null unter „S“. Das Jahr 1987 zeigt ein ähnliches Ergebnis: 400 mal „N“, zwölf mal „E“ und kein „S„-Fall. Die Behauptung von Umweltminister Töpfer, daß bisher keine S-Fälle in der Bundesrepublik notiert wurden, ist schlitzohrig. Es gab eine ganze Reihe von S-Fällen, die allerdings noch vor der erst seit zwei Jahren gültigen Kategorie-Einteilung auftraten.

Eine Pflicht zur Unterrichtung der Öffentlichkeit besteht in keinem der Störfälle. Nur über die Katastrophenschutzpläne ist eine Information der Öffentlichkeit bis zum Wortlaut geregelt.

Das RWE gibt in der Regel Abschaltungen, und Revisionen seiner Kraftwerke bekannt. Nach dem Biblis-Skandal will man jetzt „die Informationspolitik verstärken“. „Melden! Melden! Melden! Vielleicht müssen wir das wirklich“, räsonniert H-J. Franken und stellt gleich die Frage, wen die dann öffentlich gemachten Routineereignisse überhaupt interessieren? Einen zumindest: Michael Sailer, Physiker beim Darmstädter Öko -Institut und versiertester Reaktorexperte außerhalb der Atomgemeinde. Sailer fordert seit langem ausführliche Angaben über alle Störfälle. Diese Informationen gibt es, sie bleiben allerdings geheim und werden nur der OECD und der Wiener Atomenergie-Agentur mitgeteilt. Die Öffentlichkeit bekommt einmal im Jahr lediglich eine Pauschalauflistung aller Störfälle mitgeteilt, den sogenannten Störfall-Bericht. Diese Liste erwähnt jeden Störfall mit ein bis zwei Zeilen im schönsten Fach -Chinesisch und in unverständlicher Verkürzung. Beispiele für Biblis:

-„Sicherheitsventil im Volumen-Regelsystem angesprochen“

-„Jodaustrag durch ungeeignete Verdampfer-Fahrweise“

-„Notstrom-Diesel startet nicht“

Noch Fragen? Weitere Auskünfte sind, so Michael Sailer, in aller Regel nicht zu bekommen. Bei etwa 30 Prozent aller Störfälle könne man erahnen, welche Relevanz der Zwischenfall hatte, der Rest bleibe ein Wald von Fragezeichen. Sailers Forderung: Die Langfassung der Störfall-Berichte, die ohnehin existieren, muß auf den Tisch.

Was durch die bisherige Praxis unter der Decke bleibt, werden die nächsten Tage zeigen. Zu erwarten ist eine Flut von weiteren, nachträglich bekannt gewordenen Störfällen.

Manfred Kriener