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Die ästhetische Katharsis

■ Literatur und Computer. Ein Symposium in Essen

Michael Braun

I.Das Computerzeitalter begann vor 150 Jahren mit der Obsession eines englischen Naturwissenschaftlers: „Achtzehnhundertvierunddreißig, im Jahr des 'Hessischen Landboten‘, / konzipierte Charles Babbage, Zwangsneurotiker, Fellow / der Royal Society, Begründer der Operatorenrechnung, die / Lochkarte.“ Zäh und unbeirrt arbeitete Babbage vierzig vergebliche Jahre lang an der Vollendung seiner „Analytical Engine“, einer riesigen Rechenmaschine: „Der erste Digitalrechner, / ohne Vakuumröhre, ohne Transistor. Fünf Tonnen schwer, / so groß wie ein Zimmer, ein Räderwerk aus Messing, / Hartzinn und Stahl, angetrieben von Federn und von Gewichten, / jeder Rechnung fähig, imstande, Schach zu spielen, / Sonaten zu komponieren, mehr als das: 'jeden Prozeß zu simulieren, / der die Beziehungen zwischen beliebig vielen Elementen verändert‘.“ Als schließlich die Baukosten seiner Maschine ins unermeßliche stiegen, mußte Babbage sein Scheitern eingestehen. Es dauerte noch hundert Jahre, bis sein Landsmann Alan Mathison Turing mit seinem Aufsatz On Computable Numbers den noch fehlenden Baustein zur Verwirklichung dieses Maschinen-Traumes entwickelte.

Hans Magnus Enzensberger hat beiden Maschinen-Denkern in seinen oben zitierten Balladen aus der Geschichte des Fortschritts ein poetisches Denkmal gesetzt. Über zehn Jahre nach ihrer Niederschrift verlangen Enzensbergers melancholische Balladen nach einem Postscriptum: nach einem Abgesang auf die Literatur beziehungsweise auf die Schrift, die verdrängt zu werden droht von den digitalen Codes der Computerkultur. Im Blick auf diese Entwicklung stellten die Initiatoren der 3.Essener Literaturtage, der Literaturwissenschaftler Erhard Schütz, die Publizistin Annette Brockhoff und 'Schreibheft'-Herausgeber Norbert Wehr, ihre Veranstaltung unter das Motto: „High-Tech - Low -Lit?“ Prominente Literaturwissenschaftler, Soziologen, Informatiker, Futurologen und Schriftsteller befaßten sich in Vorträgen und Lesungen mit dem Stellenwert der Literatur im Zeitalter der Kommunikations- und Informationstechnologien. In einer erschöpfenden literaturstatistischen Fleißarbeit durchforstete etwa der Münchner Informatiker Ralf Bülow die Gedichte, Romane und ästhetischen Manifeste zeitgenössischer Schriftsteller nach Computer-Motiven und erinnerte dabei an die ersten systematischen Anstrengungen der experimentellen Literatur nach 1945. Fast schon vergessen ist beispielsweise Max Benses informationstheoretische Ästhetik, die schon in den fünfziger Jahren den Versuch einer „Programmierung des Schönen“ unternahm und die seine Schüler zu einer Theorie der „Computer-Kunst“ ausbauten. Das Kunstschöne wird von Bense streng formalisiert und den Prozeduren statistischer Beweisbarkeit und experimenteller Kontrollierbarkeit unterworfen. Im blinden Vertrauen auf den neuen dynamischen Mythos der „Kreationsmaschine“ landeten Benses Schüler schließlich bei den Banalitäten der „Computer-Lyrik“. Weder die dichtenden Computer Benses, noch die berühmt gewordenen Sprachmaschinen ELIZA und RACTER wissen aber, wovon sie reden. Diese scheinbar intelligenten Maschinen folgen stur den in ihren Dateien gespeicherten Wort- und Satzverknüpfungsregeln, ohne jeden sensorischen Bezug zu ihren Referenten. Sie haben keinen sinnlichen Zugang zur Welt, die in ihrem Lexikon gespeichert ist und in einem syntaktisch-semantischen Leerlauf durch die Schaltkreise jagt.

Was ist von Benses Computerfaszination unter zeitgenössischen Schriftstellern übriggeblieben? In den Werken von Jürg Laederach oder Elfriede Jelinek liefern die technischen Medien nicht mehr nur den bloß stofflichen oder motivischen Vorwand für einen letztlich konventionell erzählten Text, sondern avancieren zur Basis einer neuen sprachschöpferischen Literatur: Die Reflexion auf die digitalisierte Welt schlägt sich nieder in einem collagierenden und montierenden Umgang mit Sprache, im virtuosen Spiel mit den verschiedenen Codes der Wissenschaften, diverser Fachsprachen, der Literatur und des Alltags. Auch die als Liebesgeschichte mißverstandene Erzählung Nervöse Leser (1987) von Bodo Morshäuser zeigt, wie die elektronischen Speichermedien die Regie in allen Lebensbereichen übernommen haben. Die Unmittelbarkeit der Gefühle wird dort zersetzt durch die Herrschaft technischer Medien: Heimlich werden Tagebuchaufzeichnungen kopiert, Telephongespräche und zufällige Dialoge auf Mikrokassetten gespeichert. Martin Hielscher analysierte in seinem Exkurs über „die Gegenwartsliteratur vor dem Computer“ unter Rückgriff auf eine Studie von Manfred Schneider (Die erkaltete Herzensschrift) die elementaren Veränderungen literarischen Schreibens im Zeichen der neuen Medien. Die Epoche der „abendländischen Monarchie der Schrift und des Drucks“ (Schneider) scheint abgelaufen: Nicht mehr die gedruckten Bücher sind das absolute Medium der Wahrheit und das Archiv des kulturellen Gedächtnisses, sondern die neuen Speichermedien. Aber verschwindet damit auch die Literatur?

II.Eine der scharfsinnigsten Diagnosen der Wirklichkeit, die sich zunehmend in einen immateriellen Kosmos aus Nachrichten, Botschaften und Codes verwandelt, verdanken wir Jean-Fran?ois Lyotard. In einer Pressemitteilung zu der von ihm im Sommer 1985 organisierten Ausstellung Les immateriaux heißt es: „Es ist, als hätte man zwischen uns und die Dinge einen Filter gesetzt, einen Schirm von Zahlen. Eine Farbe, ein Ton, ein Stoff, ein Schmerz oder ein Stern kommen zu uns zurück als Zahlen auf Kennkarten von höchster Genauigkeit. Mit den Kodier- und Dekodiersystemen erfahren wir, daß es Realitäten gibt, die unangreifbar sind. Die gute alte Materie selbst erreicht uns am Ende als etwas, das in komplizierte Formeln aufgelöst und wieder zusammengesetzt worden ist. Die Wirklichkeit besteht aus Elementen, die von Strukturgesetzen (Matrizes) in nicht mehr menschlichen Raum und Zeitmaßstäben organisiert werden.“

Ob und inwieweit die Ära der elektronischen Datenverarbeitung eine fundamentale Umwälzung nach sich zieht: an dieser Frage schieden sich bei den 3.Essener Literaturtagen je nach Erkenntnisperspektive die kritischen Geister. Während etwa Otto Ullrich eine düstere negative Utopie auspinselte und vor einer totalen „Maschinisierung des Lebendigen“ warnte, plädierten Wolfgang Coy und Friedrich Christian Delius alltagspragmatisch für die kreative Nutzung des Computers als hochentwickelte Schreibmaschine. Wolfgang Coy, Professor für Informatik in Bremen, demonstrierte in seinem souveränen Vortrag über die Geschichte der Schrift, wie sich Texte mit Hilfe der maschinellen Textverarbeitung aus ihrer eindimensionalen Linearität befreien und zu neuen Archivierungs- und Darstellungsmöglichkeiten finden können. Friedrich Kittler versuchte danach einmal mehr die historische Bruchstelle zu analysieren, an der das Zeitalter der Fiktion und Kunstproduktion endet beziehungsweise übergeht in die Epoche der Simulation. Die elektronische Durchdringung der Welt zerstört - so Kittler - die Fiktion der traditionellen Ästhetik: die Fiktion, daß die Buchstaben nach aristotelischer Definition Zeichen der Laute und die Laute „Zeichen für Widerfahrnisse einer Seele“ sind. Die Ära der elektronischen Datenverarbeitung mache das griechische Vokalalphabet und die auf ihm beruhende Sprache überflüssig. Begriffe und Beispiele aus der reinen Mathematik und den Schriften von Jacques Lacan und Jean Baudrillard schwirren in Kittlers Argumentationsgang oft wild durcheinander. Seine oft kryptische Beweisführung kreist um die immer gleiche These: daß die sogenannte Wirklichkeit unter Computerbedingungen „dissimuliert, nämlich auf Algorithmen gebracht“ wird und daß die technischen Medien „Manipulationen am Realen“ vornehmen können, „wie sie unter dem Regime hergebrachter Künste nur am Symbolischen möglich waren“.

„Wir befinden uns mitten in einer Kulturrevolution“: Diese Prämisse verbindet so unterschiedliche Autoren wie Kittler und den brasilianischen Computer-Philosophen Vilem Flusser mit Schriftstellern wie Delius oder Enzensberger. Die Thesen zu Canetti und Computer, mit denen F.C. Delius die Podiumsdiskussion der Essener Tagung eröffnete, bezogen ihre Stichworte aus Flussers Essay Ins Universum der technischen Bilder. In Delius‘ Vorschlag, die Computerkultur als eine „prinzipiell demokratische Kultur“ zu verstehen und die Dialogpotentiale der neuen Medien zu nutzen, schwang auch noch das leicht angestaubte, kulturrevolutionäre Pathos aus Enzenbergers Baukasten zu einer Theorie der Medien (Kursbuch 1970!) mit. Der selbstverordnete Optimismus, mit dem sich Delius in seinen Thesen und dem soeben abgeschlossenen Theaterstück Nacht der Rechner - Tag des Lächelns dem Vormarsch der Technokraten entgegenstemmen will, ist immerhin ein erster Versuch, das hilflose Ressentiment der meisten Literaten gegenüber den neuen Medien zu überwinden. Eine überzeugende Antwort auf Vilem Flussers kulturrevolutionäre Visionen steht aber noch aus. Denn Flusser postuliert ja auch den Abschied von der Literatur (vgl. 'Merkur‘ 9/10, 1986): „Wenn wir die Computerprogramme mit dem Gerede vergleichen, das gegenwärtig die Sprachszene in Form von Drucksachen wie Zeitungen verpestet, dann erscheinen uns diese Programme geradezu als ästhetische, moralische und epistemologische Katharsis. (...) Es wird langsam Zeit, die Literatur durch andere Kommunikationsmethoden zu ersetzen.“ Die „Thesen“ und „Baukästen“ einiger weniger Schriftsteller werden in Zukunft wohl nicht mehr ausreichen, um den Angriff der neuen Medien auf das Universum der Schrift und der Literatur erfolgreich abzuwehren.

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