: Eine Stimme entscheidet über Albrecht
75, 76, 77... : Heute stimmt der niedersächsische Landtag über das konstruktive Mißtrauensvotum gegen den niedersächsischen Ministerpräsidenten ab / Ein Wahlgang mit Risiken für beide Seiten / Auch die SozialdemokratInnen befürchten einen GAU ■ Aus Hannover Jürgen Voges
„Wir haben keine Überläuferstimme. Ich gehe ohne Absicherung in diese Abstimmung, und natürlich ist auch ein gewisses persönliches Risiko damit verbunden.“ - Oft hat der niedersächsische SPD-Oppositionsführer Gerhard Schröder diese Sätze wiederholt, seit seine Fraktion das konstruktive Mißtrauensvotum gegen Ernst Albrecht beschlossen hat, das den Weg zu Neuwahlen in Niedersachsen freimachen soll. Der seit nunmehr 13 Jahren amtierende CDU-Ministerpräsident, der „Mitte dieses Jahren aufhören wollte“, sieht dagegen in dem Abwahl-Antrag „sogar eine Chance“. Die heutige Abstimmung, so Ernst Albrecht, werde „die Mehrheitsverhältnisse im Lande klarstellen“. Die niedersächsischen Christdemokraten wollen mit einem gescheiterten Mißtrauensvotum einen Schlußstrich unter des Halbjahr der CDU-Affären ziehen und beschwören schon allenthalben die kommende „Offensive“ ihrer Partei.
Bevor am heutigen Morgen die 155 Abgeordneten des niedersächsischen Landtages in alphabetischer Reihenfolge die eigens im Plenum aufgebaute Wahlkabine betreten, wird nur Landtagspräsident Edzard Blanke noch einmal das Wort ergreifen. Den Stimmzettel, der mit „Antrag auf Wahl des Abgeordneten Gerhard Schröder zum neuen niedersächsischen Ministerpräsidenten“ überschrieben ist, dürfen die Parlamentarier nur mit den in der Wahlkabine ausliegenden Kugelschreibern ausfüllen. Jede über das Kreuz bei „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ hinausgehende Kennzeichnung des Zettels wird automatisch als „ungültige Stimmabgabe“ gewertet - auch dies wird Parlamentspräsident Blanke den Abgeordneten mit auf den Weg geben.
Eine Enthaltung aus
dem Regierungslager...
Natürlich kann für Ernst Albrecht die heutige Abstimmung auch zur Niederlage werden, ohne daß sein Herausforderer zum neuen Ministerpräsidenten gewählt würde. Eine Stimme Mehrheit hat die Regierungskoalition in Hannover: Den 69 CDU - und neun FDP-Abgeordneten stehen 66 ParlamentarierInnen der SPD und elf Grüne gegenüber. Jede Enthaltung im Regierungslager würde für den Ministerpräsidenten schon eine Katastrophe bedeuten. Denn bei 77 Ja-Stimmen für Schröder, ebensoviele Nein-Stimmen und einer Enthaltung aus dem Regierungslager hätte Ernst Albrecht keine Mehrheit mehr, müßte zurücktreten oder zumindest umgehend die Vertrauensfrage stellen. Über die wiederum müßte dann erneut im Landtag abgestimmt werden - allerdings offen.
...oder eine SPD-Stimme
für Ernst Albrecht?
In den Reihen der SPD wird ein Ergebnis, bei dem Albrecht mehr als die 78 Nein-Stimmen der CDU/FDP-Koalition auf sich vereinigen könnte, als „größter anzunehmender Unfall“ angesehen. Dabei fürchtet man in der Umgebung des Herausforderers Geehard Schröder nicht etwa um die Stimmen der elf grünen Abgeordneten, die schon lange vor der SPD für ein Mißtrauensvotum eingetreten waren.
Es sind einzelne Abgeordnete aus den eigenen Reihen, die den Sozialdemokraten Sorgen bereiten. Da gibt es einige, die bei Neuwahlen aus dem Landtag ausscheiden würden, die noch nicht im Pensionsalter sind und für die eine Rückkehr in ihren angestammten Beruf ein erheblicher sozialer Abstieg bedeuten würde. Die Sozialdemokraten hatten denn auch zur Einstimmung auf die Abstimmung für gestern abend nach Hannover zu „einem gemütlichen Beisammensein geladen“. Eine vorgezogene Weihnachtsfeier mit Präsenzpflicht für alle Landtagsabgeordneten sollte die rechte Stimmung für das geschlossene Stimmverhalten schaffen.
CDU-Großkundgebung
Die CDU hat schon vor Wochen für den heutigen Abend eine „Großkundgebung“ in der Niedersachsen-Halle in Hannover angesetzt. Bundeskanzler Kohl wird dort reden, dazu natürlich Ernst Albrecht. Reden wird auch eine der Skandalfiguren: Erstmals vor großem, wenn auch heimischem Publikum wird der CDU-Landesvorsitzende Wilfried Hasselmann das Wort ergreifen, der jüngst vor dem Spielbank -Untersuchungsausschuß eine Falschaussagen korrigieren mußte und fast alle Fragen mit „Ich kann mich nicht erinnern“ beantwortete.
Ihre vielbeschworene „Offensive“ haben die niedersächsischen Christdemokraten bitter nötig. Schon nach der Wahl im Nachbarland Schleswig-Holstein sind sie in den Meinungsumfragen auf ganze 36 Prozent abgestürzt. Bei diesem katastrophalen Wert ist es dank der niedersächsischen Affären bis zur jüngsten Umfrage Ende November geblieben. Auch wenn das konstruktive Mißtrauensvotum ganz normal mit 77 zu 78-Stimmen scheitert, bleiben bis zur nächsten Landtagswahl nur noch eineinhalb Jahre. Das Motto der vorab terminierten Siegesfeier ist den CDU-Oberen allerdings unversehens zweideutig geraten: „Niedersachsen bleibt in guten Händen“, lautet es. Diese müssen nicht unbedingt die von Ernst Albrecht sein.
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