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„Das war doch sein Beruf“

Ich sag es Ihnen gleich, wir stehen zu ihm.“ Frau Rüttinger öffnet ihre Wohnungstür nur einen Spalt. Sie wohnt mit ihrem Mann im gleichen Haus wie der ehemalige NS-Gendarm Wilhelm Wagner. „Das ist doch ein Saustall“, macht sie ihrer Empörung Luft, daß man „einen 82-jährigen kranken Mann noch ins Gefängnis steckt.“ Die Rüttingers haben die Hausmeisterfunktion als Nachfolger von Wilhelm Wagner in dem ehemaligen Polizeigebäude an der Nürnberger Straße in Markt Bibart, ca. 60 km von Nürnberg entfernt, übernommen.

Wagner wohnt dort für 40 Mark monatlich, seit die örtliche Polizeistation vor 15 Jahren aufgelöst worden ist. Frau Rüttinger ist außer sich. „Soll Wagner wohl im Gefängnis auch noch sterben?“

Bürgermeister Hans Weber bewältigt im Alleingang die Amtsgeschäfte der 1.852 Einwohner zählenden Gemeinde, in der, so erzählt er, „seit dem Rindfleischaufstand 1298 kein Jude mehr gewohnt hat“.

„Mord ist Mord, und Mord verjährt nicht“, kommentiert der 57-jährige Christlich-Soziale den Fall Wagner, der in seiner Gemeinde wie eine Bombe eingeschlagen hat.

„Das ganze Dorf war überrascht, als die Zeitungen vom Prozeßbeginn gegen Wagner berichtet haben.“ Niemand hatte von der Vergangenheit Wagners und den seit Mitte der 60er Jahre laufenden Ermittlungen gewußt. Als Wagner im Juli dieses Jahres in die Untersuchungshaft nach Nürnberg abgeholt wurde, hieß es im Dorf, er wäre ins Krankenhaus gekommen.

Bürgermeister Weber, der stolz darauf ist, in seiner Gemeinde keinen einzigen Arbeitslosen zu haben, erinnert sich an Wagner als „keinen scharfen, aber auch keinen lauen Polizisten“, ansonsten als eher unauffälligen Mann. Letztes Jahr habe Wagner nach einem Unfall sogar freiwillig seinen Führerschein abgegeben. Er hätte Wagner derlei Taten nicht zugetraut. „Wer schaut schon in einen Menschen hinein?“

Aber seiner Meinung nach hätte man Wagner schon vor 10 oder 20 Jahren anklagen sollen und nicht erst jetzt. Wenn Wagner nach dem Prozeß wieder nach Markt Bibart zurückkehrt, wird für ihn dem Mann gegenüber „eine gewisse Reserviertheit immer bleiben“. Mit dieser Einstellung steht Bürgermeister Weber allerdings allein da.

Für den Wirt vom „Gasthof zum Hirschen“, der schon in Markt Bibart bei der Polizei war, bevor Wagner nach Kriegsende Wiedereinstellung in den Polizeidienst beantragte, wird sich in seinem Verhältnis zu Wagner nichts ändern. „Dafür gibt es doch gar keinen Grund.“ Er bezeichnet seinen ehemaligen Kollegen als „unauffällig, nicht jähzornig“. Von Wagners Vergangenheit hat er nichts gewußt, aber „was will man denn jetzt noch von dem alten Mann“.

Wagners langjähriger Polizeikollege Christoph Wich (80) hält es dagegen nicht für seine Aufgabe, Kritik an der Justiz zu üben. „Ich war 42 Jahre Polizist“, bekennt er stolz. 1927 begann seine Laufbahn bei der Polizei, drei Jahre nach Wagner wurde er pensioniert. 30 Jahre lang hat er mit Wagner in einem Haus zusammengewohnt. „Er steht mit reiner Weste vor mir als guter Freund und treuer Kamerad“, erklärt Wich. Wagner habe „seinen Dienst pflichtgemäß erfüllt“. Zu dem, was Wagner vorgeworfen wird, gibt er „keinen Kommentar“ ab. Ebenso wie die Bäckersfrau. Wagner war schließlich Kundschaft.

Der Gruppe von drei Frauen, die vor dem Friseur in Markt Bibart ein Schwätzchen abhalten, bietet der Fall Wagner einen willkommenen Anlaß, ein neues Thema aufzugreifen. Die Äußerung der 20-jährigen, „da muß schon etwas dran sein“, provoziert sofort deren Mutter. Den sollte man rauslassen, den Mann, „er hat doch nur seinen Beruf ausgeübt“. Die hätten doch ihre Befehle gehabt, außerdem sei aus Stalingrad ja auch keiner zurückgekommen.

Die Dritte, 68 Jahre alt, hat vorher von den Vorwürfen gegen Wagner noch gar nichts gewußt. „So eine Lüge glaube ich nicht“, ist ihre erste Reaktion. „Ich muß ihn loben, er war ein guter Polizist und immer anständig.“ Auf die Frage, warum Wagner dann jetzt auf der Anlagebank sitzt, hat sie eine klare Antwort und macht damit Wagner vom Täter zum Opfer: „Da muß jemand eine Wut auf ihn gehabt haben.“

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