: „Herr über Leben und Tod“
■ In Nürnberg wurde der NS-Polizeigendarm Wagner zu „lebenslänglich“ verurteilt / Bernd Siegler
Als sich der Müllergehilfe Wagner 1938 zur Polizei meldet, wird er als Gendarm im besetzten Polen plötzlich zu einem wichtigen Mann. In der Kleinstadt Wieliczka, so das Gericht, spielte er sich zum „Herrn über Leben und Tod“ auf. Nach Auffassung des Gerichts sind ihm zumindest zwei Morde an Juden nachzuweisen, begangen aus eigenem Antrieb und ohne Befehl von oben. „Lebenslänglich“ lautet der Spruch in einem der letzten NS-Verfahren in der BRD.
„Wesentlich für die Gerechtigkeit ist in erster Linie Ihre Verurteilung, alles andere ist sekundär.“ Nach knapp vierzig Minuten schloß Richter Hans Manger vom Nürnberger Schwurgericht die Urteilsverkündung gegen den 82-jährigen ehemaligen NS-Gendarm Wilhelm Wagner. Manger ordnete zwar Haftfortdauer an - seit Juli dieses Jahres sitzt Wagner in Untersuchungshaft - doch wird jetzt ein Gutachter sofort über die Haftfähigkeit des Zuckerkranken zu entscheiden haben. Wagner selbst ist da optimistisch. „Es wird schon werden“, tröstet er seine im Gerichtssal anwesenden Angehörigen, die das Urteil mehr mitgenommen hat als den Angeklagten selbst.
Wagner ist damit der 161.NS-Täter in der Bundesrepublik, der zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Selbst im aufwendigsten Verfahren der Nachkriegsgeschichte gegen die Aufsehercrew des Konzentrationslagers Majdanek, denen der Mord an 250.000 KZ -Insassen vorgeworfen wurde, verhängten die Richter der 17.Strafkammer des Düsseldorfer Landgerichts am 30.Juni 1981 nur ein lebenslänglich. Mit vier Freisprüchen, einer Verfahrenseinstellung und Freiheitsstrafen zwischen drei und zwölf Jahren endete das über fünf Jahre dauernde Mammutverfahren nach 473 Prozeßtagen. Insgesamt sind bei der „Zentralen Stelle“ der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen 91.000 Beschuldigte registriert. 12 Todesurteile, 6.192 Zeitstrafen und 114 Geldstrafen stehen einer endlosen Liste von Freisprüchen und Verfahrenseinstellungen gegenüber. Den letzten spektakulären Freispruch sprach das Bonner Schwurgericht am 17.November dieses Jahres aus. Das Gericht hielt dem SS-Offizier Modest Graf Korff, der sich wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 177 Juden verantworten mußte, zugute, er habe als SS-Mann nichts von der Judenvernichtung gewußt.
Verhandlungsunfähig
Auch der Fall Wagner hätte sich fast in die Reihe von Verfahrenseinstellungen eingeordnet. Ein entsprechendes Gutachten hatte ihn für verhandlungsunfähig erklärt und ihn 1977 vor einer Hauptverhandlung bewahrt. Dort war er noch wegen 29-fachen Mordes unter anderem an Kindern und Greisen angeklagt. Elf Jahre später liegt ein Gutachten vor, daß Wagner für drei Stunden täglich verhandlungsfähig erklärt. Im Juli wird Wagner in Untersuchungshaft genommen, am 12.September beginnt der Prozeß - diesmal „nur“ wegen zweifachen Mordes und eines Mordversuchs an polnischen Juden. Oberstaatsanwalt Schwalm wollte sich auf die Fälle beschränken, in denen Augenzeugen Wagners Taten bestätigen konnten. Und das tun sie dann auch. Im polnischen Städtchen Wieliczka, etwa 12 Kilometer von Krakow entfernt, folgt die Nürnberger Gerichtsdelegation den Spuren des ehemaligen Gendarmen und findet die Aussagen vieler Zeugen über die Örtlichkeiten bestätigt. In Israel werden nicht mehr reisefähige oder -willige Zeugen vernommen, die allesamt Wagner belasten. Alle erinnern sich an den Gendarm Wagner, die meisten können ihn nach 46 Jahren noch auf Bildern erkennen. Wagner ist in Wieliczka derartig aufgefallen, daß viele in ihm, dem „kleinsten Polizisten in einem kleinen Ort“ (Manger), den Kommandanten der örtlichen deutschen Gendarmerie gesehen haben.
Gleich nach dem Anschluß des Sudetenlandes an das Deutsche Reich 1938 hat sich der Müllergehilfe Wagner zur Polizei gemeldet. Die Gendarmerie hatte ihm imponiert. So ist Wagner plötzlich in eine Position gekommen, die „ihn als großen Mann erscheinen ließ“ (Manger). Seine „geistige Unbeweglichkeit, seine „150prozentige Diensterfüllung gepaart mit der Ideologie des Nationalsozialismus“ macht Richter Manger jetzt dafür verwantwortlich, daß Wagner sich schließlich zum „Herren über Leben und Tod“ in Wieliczka aufgespielt hat. Gleich nach dem Krieg stellt Wagner in Bayern ein Wiedereinstellungsgesuch bei der Polizei, dem auch entsprochen wird. Über verschiedene Stationen kommt er nach Markt Bibart, wird dort zum Hauptwachtmeister und Polizeimeister befördert. Im August 1966 geht er in den Ruhestand. Im gleichen Jahr wird er das erste Mal richterlich vernommen, der Name Wagner war in einem NS -Verfahren in Kiel gefallen. Seither streitet Wagner jegliche Tatbeteiligung ab. Im Gegenteil, er will sogar für sich in Anspruch nehmen, daß er „gute Beziehungen zu Juden hatte“. „Ich bin ihnen als Mensch gegenübergetreten“. Dann erzählt er, daß es „ein Naturgesetz war, daß uns Gendarmen weder Polen noch Juden leiden konnten“.
Kein Geständnis
Mit jeder Vernehmung, so Manger, ist Wagners Entfernung zum Tatort größer geworden. Wagner bestreitet, jemals NSDAP -Parteimitglied gewesen zu sein, doch seine Mitgliedsnummer 6.530.287 ist aktenkundig. Nur an zwei Erschießungsaktionen will er beteiligt gewsen sein. Noch bevor er den ersten Schuß im Wald bei Nepolomiece abgegeben hatte, will er nach einem Blutspritzer von einem Opfer ins Gesicht die Waffe beiseite gelegt haben. Als drei Frauen erschossen werden sollten, will Wagner aus kürzester Entfernung danebengeschossen haben. „Wer fähig ist, auf eine Frau mit Kind zu schießen, dem sind andere Taten auch zutrauen“, urteilt das Nürnberger Schwurgericht.
Die Strategie der Verteidigung, nach 46 Jahren auf Erinnerungslücken und Detailwidersprüche von Zeugen zu setzen, geht im traditionsreichen Saal 600, in dem die Kriegsverbrecherprozesse stattgefunden haben, nicht auf. „Bei diesen einschneidenden Erlebnissen ist mit Vergessen nichts zu machen“, kommentiert Richter Manger die Zeugenaussagen und wertet sie als glaubwürdig. Straftaten derartiger Größe und Scheußlichkeit müssen, so das Gericht, eine Sühne finden, „alles andere wäre eines Rechtsstaates unwürdig“.
Mit dem Urteil gegen den NS-Gendarm Wagner ist einer der letzten NS-Prozesse abgeschlossen. Nur noch wenige Verfahren stehen laut Staatsanwalt Willi Dreßen von der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen“ in Ludwigsburg aus. Die United Nation War Crime List, die entsprechenden UN-Archive wurden im Herbst 1986 geöffnet, lieferte zwar noch einmal etwa 30.000 Namen nach Ludwigsburg, doch lassen sich die wenigsten Spuren weiterverfolgen.
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