Augen- und Handarbeit

■ „Guido Reni und Europa - Ruhm und Nachruhm“ heißt eine Ausstellung in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main

Arno Widmann

Wer wegen der schmachtenden Blicke seiner Madonnen kam, wird enttäuscht sein von der Ausstellung. Das „und Europa“ spielt eine überwältigende Rolle. Dem ausstellungsbesuchenden Laien bleibt zwar der Zusammenhang zwischen dem Bologneser Guido Reni (1575-1642) und z.B. Malerinnen wie Elisabeth Vigee Lebrun (1755-1842) und Angelika Kauffmann (1741-1807) oder seinen männlichen Kollegen Philippe de Champaigne (1607 -1676) und Jean Jacques Lagrenee (1739-1821), auch nachdem er die Ausstellung gesehen hat, rätselhaft. Aber was macht das schon? So viel leuchtende Farben, soviel blitzblank gewienerte Schönheit hat man lange nicht gesehen. Selbst wer die leihgebenden Museen zum Großteil kennt, wird einige Bilder das erste Mal wahrnehmen. Vieles von Reni wurde restauriert für die großen Ausstellungen dieses Jahres und die Frankfurter Schirn ist heller als die Museen in Bologna, Neapel oder Wien.

Der in den siebenten Himmel der göttlichen Liebe sich brechende Blick und die mit dem Bogen den zarten Leib der Geige streichenden Hände - das ist die Heilige Cäcile Guido Renis: unanständig wie man es nur im Angesicht Gottes sein kann. An irdischen Reizen sparte Reni nie. Da ist sein 1619 entstandenes Bild „Atalanta und Hippomenes.“ Ein junger Mann, eine junge Frau. Beide nackt, freilich wehende Tücher über den Geschlechtsteilen. Der Mann, drahtig-schlank von vorn mit herausgestreckter Brust, die sich bückende Atalanta zeigt einen gewaltigen Unterleib mit mächtigen, weich-weißen Schenkeln. Das ist nicht die Physis einer Läuferin, die alle Männer ihrer Zeit - so erzählt Ovid - schlug, sondern das zur Schau gestellte Schönheitsideal des Alkovens. Auffällig an diesem Bild die irrisierenden Lichter, mit denen Reni den Kontur von Hippomenes‘ linkem Bein betont. Bei näherem Betrachten sind es braune Striche, die sich zwischen das Weiß der Haut und den Hintergrund schieben. Auf keinem der anderen Bilder Guido Renis habe ich das beobachtet.

Das erotische Element dieser Bilder ist unübersehbar in erster Linie ein homoerotisches. Hippomenes‘ dem Betrachter dargebotene Jünglingsbrust, der athletische Bau eines auf dem Scheiterhaufen sich in Pose werfenden Herkules oder der bei aller Kraft doch zarte Hl. Michael. Von umwerfender Komik der Heilige Johannes von der „Kreuzigung der Kapuziner“: der den Cäcilien abgeschaute Blick nach oben, der das Weiß der Augen hervortreten läßt und den Hals dem Betrachter darbietet als flöge der wie ein Vampir um Christi Kreuz. Soweit so weiblich. Wenn da nicht die Handarbeit wäre. Der Hl. Johannes, Lieblingsjünger des Herrn, verdreht entzückt die Augen nach ihm, während seine in Penishöhe ineinandergeschobenen Hände ein kleines Loch bilden, dessen Bedeutung der Phantasie der Betrachter überlassen gewesen sein mag, aber ihr offensichtlich auch zugemutet werden konnte. In der Reproduktion wird nicht deutlich, wie stark durch das Gewoge des roten Umhanges des Hl. Johannes die Aufmerksamkeit auf diese Winzigkeit gelenkt wird. Natürlich schweigen sich Katalog und weiterführende Literatur über solche Auffälligkeiten aus. Von Aufklärung sind wir hier noch - darf man sagen? - himmelweit entfernt.

Neben vierzig Guido Reni zugeschriebenen Gemälden, fünfundsechzig Zeichnungen von ihm und über hundert Gemälden und Zeichnungen der Kategorie „und Europa“. Große Namen sind dabei: Murillo und Ribera, Jacques-Louis David und Anthonis van Dyck, Luca Giordano und Anton Raphael Mengs. Um nur einige wenige zu nennen. Es ist so viel, so Prächtiges, daß jeder seine Entdeckungen machen wird.

Den einen zieht es zur jansenistischen Strenge Philippe de Champaigne, den anderen zur Bonbonlieblichkeit von Eustache Le Sueur. Von ersterem ein 186 cm großer Ecce Homo vor braunem Gemäuer mit mächtigen Schultern unter einem roten Umhang. Das Blut überschüttet den Gepeinigten nicht, verschmiert sich nicht, sondern jeder Blutstropfen ein Rubin, eine kostbare Reliquie schon im Augenblick, da er aus der Haut austritt. Dies aber auch der einzige Schmuck. Freilich gerade dadurch sehr suggestiv und wirkungsvoll.

Sein Zeitgenosse Eustache Le Sueur arbeitet da ganz anders. Sein Pärchen - „Bacchus und Ariadne“ - ist weich, schmelzende Haut im Licht naturwidrigen hellsten Rose. Wunderbar die Sohle des linken Fußes. Sie leuchtet von Innen wie einer dieser uns viel zu lieblich gewordenen Weine aus Bordeaux. Genauso auch Bacchus‘ Fingerspitzen. Nicht etwa die ganzen Finger, nein, nur die Kuppen. Tupfen leuchtenden Rosas vor dem tiefen Dunkel eines Baumstammes. Nichts ist natürlich, alles ist Kunst oder doch wenigstens Kitsch. Die einzig adäquate Reaktion vor solchen Bildern sind spitze Entzückensschreie oder aber man wendet sich angewidert von so viel Dekadenz den strengeren Meistern zu.

Niemand versteht sich so auf die Kunst, einen Totenkopf auf ein Buch zu legen wie Jusepe de Ribera. Man übersieht den nackten Oberkörper seines Hl. Hieronymus und den posaunenden Engel, so wird die Aufmerksamkeit absorbiert von dem düsteren Memento Mori am rechten Bildrand. Das Stilleben spricht hier beredter als die große Geste des die Arme ausbreitenden Heiligen. Der stammt freilich deutlich weniger von Reni als von Caravaggio. Dessen Einfluß erscheint auch in dieser Ausstellung unvergleichlich viel prägender als der Renis, um den es hier doch gehen sollte. So sehr die Ausstellung ihr Lernziel verfehlt, so interessant ist das, was sie stattdessen bietet.

Da sind Bilder, die das Laienauge sofort als Fälschungen enttarnt, während Experten für höchste Beträge Echtheit attestieren. Zum Beispiel die 1984 aus amerikanischem Privatbesitz von der Getty-Stiftung erworbene „Hl. Familie“ wirkt als hätte ein Fälscher zunächst mal in Richtung Raffael gearbeitet, sich dann aber eines Besseren - leichter verkäuflichen - besonnen. Bei Bildern wie diesen wüßte der Laie gerne, was den Fachmann so klug macht, gegen den ganz offensichtlichen Augenschein zu urteilen. Man würde so gerne schlauer und vorbereitet ist man ja: seinen Augen zu mißtrauen, ist schließlich die erste Lektion, die einen die Wissenschaft lehrt. Gleichzeitig weiß man, daß, wenn es um Bilder geht, man meist nicht viel mehr als die Augen - die eigenen und die anderer - hat. Vergleichen - darauf reduziert sich meist die Arbeit.

Dazu gibt es schönste Gelegenheiten. Zum Beispiel die mit einem Blick zu überschauenden Hl. Michaele von Luca Giordano, der aus der Berlin-Dahlem, von Murillo, Kunsthistorisches Museum Wien und von Claudio Coello, Houston Texas. Am eindrücklichsten natürlich der blondgelockte Junge von Luca Giordano, der bald ein Mann sein wird. Hier tanzt einer die Kür. Ein Eisläufer, der lustvoll mit elegantem Schwung Satanas den Speer genau an der Stelle in den Leib rammt, wo Longinus den Heiland traf. Murillos Michael ist jünger, mehr ein Alb als ein zürnender Gottesbote. Coellos Michael ist der jüngste. Er hält das Schwert wie eine Peitsche. Unter ihm liegt ein unversehrter, kräftiger Satan, der, hätte der kleine Goldlockenkopf über ihm nicht noch das Kreuz in der Hand, sofort aufstünde und dem Spuk ein Ende machte.

Guido Reni und Europa - Ruhm und Nachruhm, Schirn Kunsthalle Frankfurt/Main, geöffnet bis zum 26. Februar 1989, Dienstag bis Freitag 10.00 bis 21.00 Uhr, Samstag, Sonntag und an Feiertagen 10.00 bis 19.00 Uhr. Montags und am 24.12. und 31.12. geschlossen. Der mächtige Katalog mit Beiträgen u.a. von Sybille Ebert-Schifferer, Francis Haskell und Ezio Raimondi kostet an der Kasse 59,-DM