: Bremer Fahrradmanufaktur: Das Ohr an der Wade
Selbstverwaltete Fahrradfabrik nach ihrem ersten Jahr im Aufwind / Zwei neue Kreationen für die 89er Saison / Die Rahmen kommen aus dem Fernen Osten Starke Nachfrage und mehr Jobs / Für 1988 wird allerdings ein Bilanzverlust erwartet, weil sich die Schrauben selbstverwaltet langsamer drehen ■ Von Michael Weisfeld
Mehr Arbeitsplätze, neue Produkte, eine weitere Fabriketage. Die kleine, alternative Fahrradmanufaktur auf dem Gelände der früheren Bremer Großwerft „AG Weser“ macht am Ende ihres ersten Lebensjahres genau das gleiche wie ein internationaler Multi auch: Sie expandiert.
Dabei war ihr erster Fahrradsommer alles andere als ein Blütenreigen. Konkurrierende Anbieter hätten die dynamische Pflanze am liebsten schnell wieder verdorren lassen: Die Bielefelder Firma Gudereit, die die Manufaktur mit Fahrradrahmen belieferte, soll den Druck alteingesessener Händler zu spüren bekommen haben: Als sie am nötigsten gebraucht wurden, gingen der Manufaktur die Rahmen aus. Die Gröpelinger FahrradbauerInnen gerieten bei ihren Kunden, den selbstverwalteten Fahrradläden, in Lieferverzug. Mehr als Glücksfall sehen die Fahrradbauer es heute, daß sie auf die Schnelle einen anderen Rahmenhersteller finden konnten.
„Das Rad“. Unter diesem schlichten Markennamen kam das erste Produkt der Manufaktur im Frühjahr in die Läden. Es ist ein solides, einfach aufgebautes Stadtrad mit hochwertigen, haltbaren Bauteilen und kostete zwischen 700 und 800 Mark. Die selbstverwalteten Fahrradläden hatten der Manufaktur versprochen, feste Kontingente abzunehmen, aber im Verlauf des Sommers gingen sie weit darüber hinaus. 3.000 Räder wollte die Manufaktur in ihrem ersten Jahr zusammenmontieren - bisher sind es schon mehr als 4.200.
Mit fünf Leuten hatte die Manufaktur im Dezember des vergangenen Jahres angefangen, im Sommer wurden fünf „Aushilfen“ mit befristeten Arbeitsverträgen eingestellt. In der nächsten Saison sollen 18 Leute - Kollektivmitglieder und „Aushilfen“ - in der Fabriketage arbeiten, unter ihnen drei Frauen. Für einen Einheitslohn von 1.500 Mark pendeln sie zwischen der Werkstatt und dem Büro. Mehr Leute braucht der Betrieb, weil er für das nächste Jahr neue Modelle plant: Ein neues Reiserad und ein „All Terrain Bike“, also eine Art BMX-Rad für Erwachsene.
Für die beiden neuen Räder verwendet die Manufaktur nur einen einzigen Rahmentyp. Er soll aus Chrom-Molybdän-Stahl bestehen und deswegen leichter und zugleich stabiler sein als der Rahmen des Stadtrades, der aus schlichtem Baustahl gefertigt wird. Der neue Rahmen ist breit ausgelegt, damit er als „All-Terrain-Bike“ mit richtig dicken Reifen gefahren werden kann, also bequem gefedert im Gelände, aber auch auf Holperpflaster in der Stadt. Das Rad ist etwas kürzer als das bisherige Stadtmodell der Manufaktur, erlaubt aber immer noch einen gemütlichen Schiebetritt: Das Tretlager liegt erheblich vor dem Sattel. Von der nervösen und schnellen Fahrweise auf den kurzen Rennrädern ist man also noch weit entfernt.
In 18 Gängen können die RadlerInnen herumschalten, um die Übersetzung immer an Gelände und Wind anzupassen. Kritischer Punkt des neuen Rahmens: Tretlager - und damit auch der Sattel - liegen ziemlich hoch, damit man mit dem „All Terrain Bike“ gut über Stock und Stein kommt. Man sitzt deshalb sehr hoch und kommt im Sitzen nicht mehr mit dem Fuß auf den Boden. Vor der roten Ampel muß man also aus dem Sattel gehen.
Außerdem kann es sein, daß die neuen Modelle radfahrende Frauen abschrecken. Denn es gibt sie nur mit Männerstange. Der Stabilität des Rahmens, auch unter schwerem Reisegepäck, haben Konstrukteure die Vorfahrt eingeräumt. Auch Frauen könnten diese Räder fahren, meinen die HerstellerInnen ungerührt - halt nur in Hosen.
Was die Kreation neuer Räder angeht, sind die Gröpelinger Fahrradbauer ihren verknöcherten Konkurrenten weit voraus. Denn hinter der Manufaktur stehen rund 60 selbstverwaltete Fahrradläden, die wissen, was die RadlerInnen wünschen. Wie ein Mitarbeiter der Manufaktur sagte: „Wir haben das Ohr an der Wade der Kundschaft.“ Auf einem bundesweiten Treffen des „Verbundes der selbstverwalteten Fahrradläden“ wurde schon im Frühjahr gemeinsam über neue Modelle nachgedacht. Ein schriftlicher Vorschlag entstand dann im Büro der Manufaktur und ging mit einem Fragebogen an die Läden. Auf einer Verbundstagung im September wurde die Kontruktion abgesegnet.
Die Newcomer wachsen also, aber ihr wirtschaftliches Umfeld bleibt reserviert. Als die Manufaktur ihre neuen Fahrräder auf den Papier fertig hatte, begab sie sich auf die Suche nach einem Rahmenhersteller. Doch die älteren Herren in den Geschäftsleitungen hatten für Sonderwünsche wenig Verständnis. So wird der alternative Kleinbetrieb seine Fahrradrahmen im kommenden Jahr aus dem Fernen Osten beziehen, von der Firma Apro-Cycles aus Taiwan. Traum der BremerInnen ist es, dieses Herzstück eines jeden Fahrrads selbst zu bauen.
Also rundum Erfolge. Nur eins ist noch offen: die Bilanz. Verlust und Gewinn werden erst im Januar ermittelt, wenn das umfangreiche Teilelager ausgezählt ist. Trotz ihrer guten Auslastung rechnen die Fahrradbauer mit rund 20.000 Mark Miesen, für einen neu gegründeten Betrieb noch lange kein Beinbruch. Ihr Problem: Sie schrauben die Räder zu langsam zusammen. Statt der geplanten sieben montieren sie nur vier oder fünf pro Tag und Arbeiter In. In traditionellen Betriebe werden dagegen bis zu 15 gefertigt - an Montagebändern.
Die lehnen die Manufakteure strikt ab. Hier baut jede ArbeiterIn ihr Fahrrad an einem Montageständer komplett fertig. Außerdem gab es bisher eine rasche Rotation zwischen Betrieb und Büro. „Das kommt uns teuer zu stehen, weil die Leute sich nicht gründlich einarbeiten können“, sagte einer der Manufakteure. In den nächsten Monaten wird in der Manufaktur deshalb ein Thema diskutiert werden, von dem auch andere selbstverwaltete Betriebe ein Klagelied singen können: Rationalisieren, ohne die Freude an der Arbeit zu verderben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen