: Uruguay weigert sich zu vergessen
Gegen ihren Willen muß die Regierung eine Volksabstimmung durchführen / Strafe oder Amnestie für die Verbrechen der Diktatur? / Die „Mütter der Verschwundenen“ sammelten 555.701 Unterschriften für ein Plebiszit ■ Aus Montevideo Gaby Weber
Zwölf Jahre lang - von 1973 bis 1985 - haben in Uruguay die Militärs die Politik diktiert, Zehntausende Oppositionelle wurden - oft jahrelang ohne Prozeß - in Lagern interniert, und die Gefangenen wurden generell der Folter unterworfen. Jeder 50. Staatsbürger des Dreimillionenvolkes bekam sie am eigenen Leib zu spüren. Und für all diese Verbrechen - Mord und „Verschwindenlassen“ eingeschlossen - sollten die Militärs nicht zur Verantwortung gezogen werden. So jedenfalls wollte es die Regierung, und so wollten es die beiden großen Parteien im Parlament, als sie vor zwei Jahren ein Amnestiegesetz verabschiedeten. Schlußstrich. Aussöhnung. Neuanfang.
Doch nun hat das Volk den Politikern, die sich dem Druck der Militärs damals gebeugt haben, einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wenn ein Viertel aller Wahlberechtigten es fordert, so schreibt die Verfassung fest, muß ein Gesetz der Volksabstimmung unterworfen werden. 555.701 Uruguayer gerade 216 mehr als das notwendige Quorum - haben nun ihre Unterschrift unter ein entsprechendes Begehren geleistet. Im März vermutlich wird das Volk zu entscheiden haben, ob die Militärs zur Verantwortung gezogen werden sollen oder nicht.
Als am Montag nachmittag in Montevideo das Ergebnis der Stimmenauszählung bekannt wurde, fielen sich in den Banken Kunden und Angestellte spontan um den Hals. Überall in der Hauptstadt rannten die Leute auf die Straße, schwangen Fahnen und verlangten „Strafe für die Schuldigen“. Der Gewerkschaftsdachverband rief zum Generalstreik auf - als Feier. Zur größten Menschenansammlung kam es vor der Redaktion von 'Radio Panamericana‘, dem Sender der Tupamaros, einst legendäre Stadtguerilla, heute legale politische Partei. Drei Tage lang hatte das Radio rund um die Uhr berichtet. Von über 36.000 Bürgern, deren Unterschrift amtlicherseits angezweifelt worden war, hatten 62,8 Prozent - zum Teil in allerletzter Minute - am Wochenende ihre Forderung erneuert.
Im Dezember 1987 hatten die „Mütter der Verschwundenen“ nach einer monatelangen Kampagne die Unterschriften von 630.000 Bürgern zusammengetragen, um eine Volksabstimmung gegen das Amnestiegesetz zu erzwingen. Die Regierung zog danach alle Register, von der Einschüchterung bis zur Anzweifelung der Echtheit. Soldaten, die unterschrieben hatten, wurden kurzerhand in den Arrest gesteckt. Zwei Krankenpflegerinnen des Militärhospitals wurden mit dem Argument vor die Tür gesetzt, daß auch sie sich für die Volksabstimmung ausgesprochen hätten.
Nur 91 Prozent der Unterschriften seien gültig, hatte der Wahlgerichtshof nach einem Jahr verkündet, bei den übrigen sei die Nummer des Ausweises unlesbar oder der Namenszug nicht mit dem im Wahlregister hinterlegten hundertprozentig identisch. Unter den nicht akzeptierten Unterschriften befanden sich auch die Namen der Anführer der Kampagne: des Präsidentschaftskandidaten des Linksbündnisses, Liber Seregni, und des Fraktionschefs der Nationalen Partei, Carlos Julio Pereyra, die unter lautem Protest und dem Betrugsvorwurf ihre Kontrolleure vom Wahlgerichtshof zurückzog. Es verblieb das Personal, das von der regierenden Colorado-Partei in die Institution geschickt wurde.
Neben fast 70.000 annullierten Unterschriften wurden über 36.000 mit dem Etikett „zweifelhaft“ versehen, wegen administrativer Fehler, etwa wenn der Wohnort nicht mit der Eintragung im Wahlregister übereinstimmte. Nur diesen 36.000 wurde am vergangenen Wochenende Gelegenheit zur Bestätigung der Echtheit ihrer Unterschrift gegeben. Die „Mütter der Verschwundenen“ hatten zunächst erwogen, den „betrügerischen Aufruf“ zu ignorieren. Doch sie nahmen das scheinbar Unmögliche in Angriff: Tausende Helfer zogen von Haus zu Haus, um den Betroffen mitzuteilen, daß ihre Unterschrift angezweifelt werde. Viele von ihnen wurden mit Privatautos zu den Wahllokalen gefahren, wo sie von einer Menschenmenge beklatscht wurden. Aus einem Rettungswagen heraus wurde ein 82jähriger Mann auf einer Bahre ins Wahllokal getragen, er versuchte, seine Unterschrift so zu malen, daß sie mit seiner vor über 40 Jahren hinterlegten übereinstimmte. Nach mehreren erfolglosen Versuchen hinterließ der Greis seinen Fingerabdruck. Hunderte Uruguayer, die in Buenos Aires wohnen, reisten mit Bussen an, die Behörden hatten die Brücke nach Argentinien schließen lassen, aber nach handgreiflichen Protesten linker Stadträte mußten sie sie wieder öffnen. Für inzwischen Verstorbene gingen die Hinterbliebenen mit amtlichen Sterbeurkunden ins Wahllokal. Über Radio 'Panamericana‘ wurde nach den noch fehlenden Personen gesucht. Da bat eine Frau verzweifelt über Funk ihre Nachbarin, ihr den Personalausweis, den sie auf dem Nachttisch vergessen hatte, zum Wahllokal nachzutragen.
Nun, die Organisatoren der Kampagne haben es geschafft. Die Volksabstimmung wird - gegen den Willen der Regierung stattfinden. Zwar hatte Präsident Sanguinetti bei seinem Amtsantritt 1985 sich persönlich dafür verbürgt, daß die Folterer der Militärdiktatur vor Gericht gestellt würden. Doch stellte General Hugo Medina, der letzte Oberkommandierende der Diktatur, den Sanguinetti zu seinem Verteidigungsminister machte, sofort klar, daß keiner der beschuldigten Offiziere vor Gericht erscheinen werde. Mit den Nachforschungen über die offiziell 175 „Verschwundenen“ beauftragte Sanguinetti den Oberst Sambucetti, gegen den selbst Foltervorwürfe erhoben werden. Seine Justizministerin wies der Präsident an, strafrechtlich gegen Eleuterio Fernandez vorzugehen. Der ehemalige Tupamaro hatte in einer Talkshow von „Morden der Streitkräfte“ geredet. Nun steht er unter Anklage - wegen „böswilliger Verbreitung von falschen Informationen, die öffentliche Besorgnis oder Unruhe stiften können“. Nicht der Mord, sondern das Reden über denselben ist Straftatbestand. Noch. Bis zum Plebiszit jedenfalls.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen