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Es gibt kein Berlin

■ Fünf Bücher über die „Doppelstadt“, die verschwindet, je mehr über sie geredet, geschrieben und geschwafelt wird. Eine Rezension aus der DDR

Peter Wawerzinek

Mein Freund Berny (Gelegenheitsberlinbesucher aus dem Mecklenburgischen) sagt stets, kehrt er zurück zu seiner Werkbank: Berlin (Ost) gehört nicht zur DDR. Er meint damit, dort wäre alles einen Zacken schärfer als im Restland. Und Hans Kaldus, eine meiner letzten Literaturgestalten zum Thema „Berlin“ faßt die Gemunkelgroßstadtlage so zusammen: Alles Spinne - es gibt kein Berlin. Und tatsächlich, wenn über einen Gegenstand so ungehalten viel gesagt, geschrieben, gelogen wird, liegt die Vermutung nah, daß es das Ding, von dem geschwafelt wird, gar nicht gibt. Ja, je mehr es durchgehechelt wird, desto weniger kann es es geben. Wir halten uns ein „Berlin„-Bild künstlich am Leben, wünschen nichts mehr, als daß etwas Wirklichkeit wäre von unsren Ahnungen, und scheitern beim Bemühen, das Ganze an Aussagen zusammenzufügen an der permanenten Entfremdung von einer nicht aufspürbaren Realität.

Und die Stadt, von den vier Mächtigen über den Laufsteg geschickt, räkelt sich in jeder undenk/undankbaren Position vor den touristischen Kameras oder zu protokollarischen Großveranstaltungen zwischen kieztrübe und kackfrackmotzig, mal im Jubelglimmer, mal als Lendenschurz der urvitalen Kunstszenerie. Und jedes Jahr Unmengen neuer Bücher, Bildbände in mauerüberspringender Locktönung oder zukunftshimmelschreiend Schwarzrotgold. Augenzeugenberichte, von Ostwestostwildwechsel, Neugierde wecken durch Maulaufreißen. Am Ende wird jede neue Aussage ein Hinweis zur Sache, für den Steckbrief Gesucht wird (z.B. Berlin). Und reden zwei von Berlin, so reden sie aneinander vorbei. Es gibt für jeden ein spezielles. Berlin für die Rentner, Einkaufsnetz und Wechselstuben, für Ein/Aus/Zu/Drüber und Dahintersteiger, für Einzelkämpfer im Mauerschatten, für Taubenaufscheucher und Einzelkämpfer mit Gruppensinn.

Berlin ist was für Fremde, Fremdenführer und Hundebesitzer, für Filmstars und Präsidenten, für die deutschen Onkel und Tanten, für die Nichtberliner, für Steuerfahnder und Schreiberlinge, für ganz Normale und völlig Verrückte. Erlaubt ist, was mißfällt. Eine Stadt für Comic-Serien und Witze von Mauerblümchen. Hier eine Art Präsentkorb für den fleißigen Rest und Schaltzentrale, anderenorts eine Eselsbrücke des politischen Denkens, ein Merkblatt der Geschichtsvernarrten, dort das kitschpostkartenbunte Eldorado „Den wolln wirs“ zeigen/vortun. Das hochglanzpolierte Spaltprodukt schutzmächtiger Zuhälter, dreistdeutsch und deutlich unbeholfen, wird wie ein Kind auf dem Laufsteg (die Trennlinie der Systeme) geschickt, muß bärenstark cool mit Herz auf der Zunge daherkommen, fungiert als Schnellaufgußbeutel der großen Verwirrung, ein Kopfschüttelparadies.

Alles scheint es zu geben. Die Mauer, die Busse, die Telefonzellen, Tanzböden und Wurstbuden, Andenken und gern besuchte Stellen. Die cleveren Leute im Hintergrund, die für diese kaum zu fassende Spukcity sorgen, leisten ganze Arbeit, als könnte der Wahnsinn gesellschaftsfähig werden. Dieses Gebilde (oder Eingebilde) von Stadt „im Herzen Europas“ (zwei Kammern hat jedes Herz), geformt aus weltpolitischem Hartgummi, vom Schutzkitt zusammengedrückt, gleicht einer abgenutzten Schaufensterpuppe in dümmlicher Pose. Die Stadt ist nicht wählerisch. Jeder Fummel aus Ostwestrichtung hing schon an ihrem Leib, selbst der Betongurt wurde langsam Bestandteil von ihr, das beweist schlechten Zeitgeschmack. Und die Lady City kann sich immer noch nicht zwischen bikinilocker und wach-auf-zug -uniformiert entscheiden. Eine Hälfte geht im ampelgrünen Optimismus gehüllt (alle Räder stehen still...), die andere coca-braun daher (alle trinken still).

Für Kinder ist es einfacher, die blicken nur wenige Meter die Straßen hoch, finden zwischen Müll und geputzten Autos Spielspaß.

Thomas Maess hat mit seinem Buch Was machen wir heute an die Kinder gedacht und versucht, diese Stadt zum ganzjährigen Bolzplatz zu erklären. Er listet nahezu alle Orte für Kinder auf, scheucht die Kinder kreuzundquer durch Westberlin, schickt sie auch in den Ostteil, jedoch nicht ohne eindringliche Warnung: Ein Besuch im Ostteil der Stadt kann Kindern schlagartig (schlagbaumgewaltig, der Autor) deutlich machen, daß sie in einer geteilten Stadt leben.

Die Adressen am Ende des Buches sind nützlich. Ansonsten ist die Machart ziemlich bieder und oft witzlos. Die Lieder und Gedichte sind eher für Oma und Opa, auch die Kinderbastelein für Regentage wirken lahm. Das Buch nervt etwas, besitzt zum Glück ganz manierliche Flüchtigkeitsfehler und Stilblüten: Der Wilmersdorfer Volkspark ist schon vor der Eiszeit entstanden, oder: „Pfauen sitzen auf hoher Stange und schlagen ein Rad.“ Der Autor verläßt den schulmeisterlichen Grundton nie! „Erst sollt ihr/ dann könnt ihr ja/ ihr werdet sehen/ unbedingt macht dies und dies und laßt euch nicht.“

Und weshalb für „Weihnachten in Berlin“ gleich zwölf Seiten herhalten müssen? Ob man die Stadt tatsächlich kennt, wenn alle Parks durchstreift sind, wage ich zu bezweifeln. Kaldus würde sagen: Berlin ist Riesenbolzplatz der Politik, Kinder, und ganz andre Empfehlungen geben! Zugegeben, weniger kindgerecht, jedoch Vergnügen erweckende: zum Beispiel Geldbörsen an Angelschnüren auf den Bürgersteig legen und vor dem Aufheben wegzupfen. Ein artiges Kinderbuch für Eltern, die sich ihre Sprößlinge so wünschen. Bleibt zu hoffen, daß die Kinder es besser machen, einfach die Dinge tun, auf die Maess nicht kam und nicht kommen wird.

Anläßlich der Feierlichkeiten hat der Ostberliner Hintergrund (ich sage nie Untergrund), haben die Macher einer kleinen Zeitschrift 'Entweder - oder‘ ein Heft herausgegeben: Berliner Mauern, (mauern die Berliner wirklich so viel?), das ganz lustig beginnt. Zuerst werden die beiden Texte der Deutschen Post/DDR für Glückwunschtelegramme an Freunde und Genossen, Eltern und Bruderschaften (nur für den Inlandsgebrauch) zum Berlinjahr abgedruckt. Das hat seinen eigenen Witz (die Realität schlägt dem Satiriker die Beine unterm Hintern weg!) und macht Lektürelust. Doch dürftig geht es weiter und gehetzt: Ein Glück, die Stückzahl solcher alternativen Publikationsformen (amtliche Sprachregelung seit Bizarre Städte) ist gering, da ist der „Schaden“ begrenzt.

Eine mit balkenstempligem Aufdruck versehene Walter -Ulbricht-Marke (als schmule er über die Mauer hinweg?) und viel geistlose Schmerzlyrik a la Die Streife fährt vorbei. Viele junge DDR-Lyriker kommen mir vor, als läge der Prenzlauer Berg nahe den Folterzellen Chiles, als wäre der morgendliche Einkauf lebensgefährlich. Ein „zähneknirschendes Grüppchen kreativer Selbstbetrüger“ (Hans Kaldus), ein Hang zum trotzigen Selbstmitleid, nur weil man noch nicht in den Westen ging, ist innerhalb der DDR-Kultur permanent aufspürbar.

Da liegen zwei Bücher von ehemaligen DDR-Bürgern (F.W.Matthies‘ Gelächter und der Roman von Hans Noll Berlin Scharade) friedlich nebeneinander auf meinem Schreibtisch. Also Frank-Wolf Matthies... Wie kann ein Mensch nach Jahren der Trennung zwischen Rom und Kreuzberg so ausdauernd und fast notzüchtig an einem Berlinbild basteln, das von Namen und Orten , Institutionen und Zeitungsausschnitten, Gerüchten ud Witzen früherer Zeiten Frische ausstrahlen soll? Beinahe buchstabengetreu kann der ungeübte Leser bei F.W. Matthies den Stil von Adolf Endler (laut eigener Aussage am meisten erwähnter DDR-Autor: „Ich bräuchte eigentlich nicht mehr zu schreiben, soviele schreiben über mich!“) herausfiltern. Ein nuschelndes Original bekommt mir besser als die verführerisch -wortstiebitzende Nachahmung. So findet das Leben, von dem in Gelächter geredet wird, allein im Kopf seines Autors statt. Außerhalb seines Wunschprenzlauer Bergs gehen die feinen Sprachschmuckstücke entzwei, sie zerschellen an der sich weiterergießenden Realität. Da helfen auch Namen von höchsten Vertretern staatserhaltender Überwachungseinrichtungen nicht, dehnbare Plattformen für sein eigenes Abrechnen zu erstellen. Da bringen kräftige Töne aus dem enttabuisierten Intimbereich und nette kleine Schweinereien, hier und da eingestreut, keinerlei Plus an Verständnis bei mir auf. Allein die Illustration von Helge Leiberg sind des Betrachtens wert, wie überhaupt die gesamte Gestaltung, Druck und Einband, für vieles entschädigt.

Hans Noll dagegen, den ich die „Claire“ Noll der Prominentenspitze kulturpolitischer Eisberge des Landes nennen möchte, bietet durchaus feinen Klatsch aus der Umgebung seines Schrifstellervaters Dieter Noll (Top-Autor der DDR und gelegentlicher Vorankläger, wenn es darum geht, Kollegen als „kaputte Typen“ zu verunglimpfen). Des Sohnes Weggang aus dem Land der Qual ist weniger beachtet worden, worüber dieser sich in seinem Band oft beklagt. Hans Noll aber ist kein OstWest-Bond, und seine Andeutungen, er könne die Nomenklatura seines Herkunftslandes auffliegen lassen, wenn er bloß wollte... Ja, wenn er doch bloß wollte. Es bleibt bei Andeutungen, wie bei allen Leuten, denen der Mut zum großen Coup fehlt. Ob Noll ihn aufbringen wird? Ihm geht es zu häufig um sein Wohl. Da sind Bürokraten nicht zuvorkommend, Freunde zu knauserig, Verleger und Ausstellungsmanager zwar nett, jedoch wenig herzlich - beim Geldvorschießen und Gageauszahlen! Wer Lust hat zu erfahren, was während kleinerer Feste in Ostberliner Kunstkreisen beredet, geschmaust, getrunken, beraten und manchmal geschimpft wird, der nehme sich dieses delikaten Blablas zwischen Diplomatenkoffer und Schriftstellerkongreß liebevoll an. Mit Namen und lustigen Merksätzen wird der Leser reichlich versorgt. Manchmal allerdings läßt uns der Autor im Stich und redet von einem Lektor eines großen Verlages. Der Personenschutz der Anonymität erhöht den Lesespaß beträchtlich und artet in kniffliges Rätselraten aus.

Aber Noll selbst hat durchaus aufschlußreiche Begegnungen im Westen. „Sie sind seit Fühmann der erste Ostmensch, mit dem ich hier so zusammensitze.“ (Wie mag der Südwestmensch aussehen...) Die neue Umgebung Berlin/West beschreibt der Autor bühnenhaft kurz, um weiterzuschwelgen in der Wiedergabe langer Gespräche übers Leben im Hause - nahe der Hausbar bekannter Persönlichkeiten. Noll verwendet viele gängige DDR-Klischees und bleibt allzuoft (beinahe höflich!) hinter der paradoxen/kaum zu fassenden obszönen Realität zurück.

Wenig Neues im Sonderheft der 'Spuren‘. Lutz Rathenow stellte DDR-Autoren vor, die noch (nichts ist unsichtbarer hierzulande als das Verbleiben hierzulande) im Lande sind. Holger Eckermann und Christoph Tannert zerbrechen sich den Kopf über die „Szene“ der Hauptstadt und finden heraus: „Die Szene ist nicht immer der Prenzlauer Berg.“ Den Trend zum Super-8-Film muß man nicht bejubeln, wenn Video in Kinderschuhen herumgeistert. Die von den beiden aufgedeckte Tendenz, daß immer lauter „Ich“ gesagt wird, ist kein Qualitätsfakt. Die Ich-Geschichte Thomas Günthers bleibt ein weiterer Versuch, den Prenzlauer Berg an einem Haus zu erklären. „Annie, die Älteste im Haus ... Ihr Schnüffeln kennt keine Grenzen ... Nachts brennt bei ihr am längsten Licht ... Von meinem Fenster aus überblicke ich den Hof...“ In dieser Art geht es weiter.

Wenn mir was Spaß machte, dann waren es die Zeilen von Det Opitz, der ein detailliertes Stimmungsbild einer engagierten kirchlichen Gruppe kirchlicher Antis zeichnete. Opitz behält im Gerede und Herumgekurve der alternativen Ideenballungen die Übersicht und schafft ein Stück Literatur. Er verteilt die längst fälligen Ohrfeigen mit leichter Hand. Sollten von Opitz Bücher in der DDR erscheinen, so würden sie wirklich die Literatur des Landes bereichern. Andere Schriftsteller passen in die Stadt wie in ein Puzzle - fallen sie heraus, stimmt das Gesamtbild immer noch.

Den literarischen Berichten fehlt die Verzwicktheit, der Spaß, die Sache weiter zu verwirren und zu erschweren. Wie war doch die These am Anfang dieses Textes: Berlin gibt es nicht - alles Spinne! Ein Buch voller Spinnereien zu einem Wunschberlin wird das erste „Berlin„-Buch sein. Es kann kein Berlin geben neben dem, wovon wir träumen - eine frohe Motzercity, die niemand recht gebrauchen kann, von der man redet wie von einem fernen Traum, der erst in Erfüllung geht, wenn diese Doppelstadt keinen Wert mehr besitzt. Und wenn sie in Büchern erstickt, hat ihr Tod etwas Poetisches für den Sänger besserer Zeiten.

Thomas Maess, Was machen wir heute, Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1986, (Fotografien Hans Markowsky);

Uwe Warnke (Hrsg.), 'Entweder - oder‘ (Heft 27), Selbstverlag Berlin/DDR, Friedrichshain, 1987;

Frank-Wolf Matthies, Gelächter, Wolke-Verlag (mit Graphiken von Helge Leiberg), 28,80 Mark

Hans Noll, Berlin Scharade Roman, Hoffmann und Campe, 1987, 39,80 Mark

'Spuren‘ (Hrsg. Lutz Rathenow), Hamburg 1988

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