: „Die Pistoleiros sind oft Polizisten“
Der Rechtsanwalt Marcelo Silva de Freitas arbeitet in der Menschenrechtsorganisation des brasilianischen Bundesstaates Para (SPDDH) ■ I N T E R V I E W
Frage: Worin liegen die Ursachen für die Landkonflikte im Bundesstaat Para (durch den auch der Xingu fließt, d.Red.)?
Marcelo Silva de Freitas: Der Süden Paras ist von Paranußwäldern geprägt. Sie gehören sehr reichen Familien, die praktisch die Herren der Region sind. Die Paranußwälder wurden vor über hundert Jahren an diese Familien verteilt. Im Grunde sind sie Eigentum des Staates, der Paranuß -Oligarchie wurden lediglich die Nutzungsrechte übertragen. Im Zusammenhang mit der geplanten Erschließung Amazoniens erhielten sie staatliche Gelder, um landwirtschaftliche Projekte durchzuführen. Trotzdem wird das Land kaum genutzt, es dient überwiegend der Finanzspekulation. Zum Beispiel bekam die Familie Mutran, die reichste und mächtigste Familie im Süden Paras, 1,5 Milliarden Cruzados für Land, das sie im Rahmen der Agrarreform an den Staat verkaufte.
Wie kommt es nun zu Landbesetzungen?
Es gibt eine große Anzahl Menschen ohne Land. Die Leute haben Hunger, sie haben keinen Platz zum Pflanzen, keinen Platz zum Wohnen, nichts. Sie kommen aus den Elendssiedlungen der Städte, vor allem aus dem Nordosten Brasiliens. Sie kamen aufgrund der Propaganda der Regierung, es gebe Land in Amazonien, aber es gab nichts.
Meist läuft eine Besetzung folgendermaßen ab: Die Leute gehen hin, besetzen, roden und pflanzen an. Wenn man länger als ein Jahr und einen Tag auf dem Land ist, muß man bei einer Vertreibung für die Ernte und die Häuser entschädigt werden. Wenn es kürzer ist, erhält man nichts. Da die Leute mitten im Urwald besetzen, erfahren es die Großgrundbesitzer relativ spät, erst, wenn schon ein Acker und eine Pflanzung vorhanden sind. Wenn sie vor Gericht gingen, müßten sie also die Siedler entschädigen. So ist es einfacher, die Polizei zu bezahlen, damit sie die Siedler verjagt.
Doch normalerweise ist die Polizei nicht sehr erfolgreich. Sie vertreibt die Siedler, verwüstet die Äcker und brennt die Wohnhäuser nieder. Aber die Siedler kommen am nächsten Tag wieder. Deshalb stellen die Großgrundbesitzer Pistoleiros an, um die Besetzer umzubringen. Die Pistoleiros sind oft hauptberuflich Polizisten.
Kannst du ein Beispiel eines Landkonflikts schildern?
Es gibt nicht nur Konflikte aufgrund von Besetzungen, sondern auch aufgrund illegalen Landerwerbs. In einem Fall kaufte ein reichgewordener Goldgräber ein Stück Land, auf dubiose Art und Weise. In dem Gebiet lebten aber schon sechs von der Regierung dort angesiedelte Familien. Der Goldgräber schickte sie fort, aber sie wollten nicht gehen. Sie sagten ihm, wenn er etwas wolle, solle er doch zu den staatlichen Stellen gehen, die sie dort angesiedelt hätten. Eines Tages schickte er nach fünf Männern unter ihnen und sagte, es wäre alles in Ordnung, der Richter würde sie in seiner Fazenda (des Großgrundbesitzers) erwarten. So gingen sie mit ihm. Sie wurden dann von seinen Pistoleiros gefesselt und gefoltert und danach in den Fluß geworfen. Sie leben noch. Der Verantwortliche ist immer noch frei, er lebt in Brasilien. Erst wurde Untersuchungshaft gegen ihn angeordnet, aber eine Richterin ließ ihn wieder frei. Danach sollte er noch mehrmals festgenommen werden. Aber die Polizisten gingen in sein Haus in Maraba und kehrten mit Taschen voller Geld zurück. Wir haben diesen Fall vor Gericht gebracht, aber die Sache konnte bis heute nicht geklärt werden. Wir als Rechtsanwälte befinden uns in einer gefährlichen Situation, weil die Großgrundbesitzer in einer Tradition der Gewalt stehen. In der Region sind schon zwei Rechtsanwälte umgebracht worden. Aus diesem Grund sind wir in diesem Prozeß vier Rechtsanwälte, zwei aus Maraba, einer aus Belem und einer aus Sao Paulo. Jetzt wissen sie: Wenn sie einen umbringen, gibt es noch genügend andere, die den Prozeß weiterführen.
Interview: Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt
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