: Wahl der Qual
Heißer Wahlkampf ganz lau ■ KOMMENTAR
Angeblich hat ja schon der Wahlkampf begonnen. Manche behaupten, Wahlplakate gesehen zu haben. „Auf geht'“, meint die CDU. Das klingt wie Schulwandertag oder Selbstermunterung im Sumpf. Die SPD versucht hingegen Dialektik mit Einfalt zu verbinden. Zwei Kinder auf der Mauer: „Berlin ist Freiheit“. Die Mauer ein Kinderspiel oder ein Kinderspielplatz? Laßt die Kindlein kommen? Wenn ja, warum dann SPD wählen? Nun ja, in dieser geteilten Stadt ist das Nachdenken ohnehin mit Kopfschütteln identisch. Auf jeden Fall ist man dankbar, wenn der Wahlkampf wenigstens Nachrichten, wenn schon nicht Schlagzeilen macht. Die SPD wolle keinen personenbezogenen Wahlkampf machen, erfährt man. Diese Selbsteinschätzung Mompers ist gut zu verstehen. Hingegen will die SPD die „absolute Mehrheit von CDU und FDP im Parlament brechen“. Ja und? Und nichts! Die absolute Mehrheit soll gebrochen werden, damit es eine stärkere Opposition gibt. Das ist raffiniert, aber auch schlicht. Anderenorts wird für einen Regierungssturz agitiert, werden Koalitionsaussagen gemacht. Hier wird die Bevölkerung einfach aufgefordert, mit großer Mehrheit eine starke Opposition zu wählen. In diesem Desinteresse an Koalitionsaussagen koaliert die SPD immerhin mit der AL. Die will auch nur eine Koalition mit der SPD nicht gänzlich ausschließen. Der Wähler soll sich also für Parteien entscheiden, die sich ihrerseits vorbehalten, gegebenenfalls zu entscheiden, was sie wollen. Zynismus? Nein. Das ist Politik wie auf der Rehabilitationsstation.
Darf sich eine ehemalige (Kultur-) Hauptstadt einen solchen Wahlkampf zumuten lassen? Nun, Gründe gibt es: Der 'Stern‘ veröffentlichte jüngst eine Wählerumfrage. Danach würden 49 Prozent für die CDU/FDP-Koalition und 48 Prozent für SPD und AL stimmen. Aber - und jetzt kommt es - 44 Prozent seien unentschlossen. Das ist ein einsamer Rekord in einer Großstadt. Diese Vierundvierzig Prozent lassen nur eine Alternative zu: entweder ist der politische Streit extrem zugespitzt oder es gibt ihn nicht. Da in dieser Stadt die politische Stimmung so trüb ist wie nach einem verkaufsoffenen Sonnabend, gilt wohl das letztere. Die Vierundvierzig Prozent, das ist schlicht die Quittung auf den Mangel an politischen Optionen. Vierundvierzig Prozent sind nahe an der Abwahl der Berliner Politik selbst.
Kein Wunder, daß die Parteien um diese Vierundvierzig Prozent herumschleichen wie um Rekonvaleszenten. „Auf geht's“, flüstert man ihnen zu; „Berlin ist Freiheit“, wird ihnen ins Ohr geraunt. Bloß nicht erschrecken. Die Parteien sind so anziehend wie der Berliner Fußball: Dankbar ist man, wenn er sich achtbar schlägt. Aber ein einziger Fehlpaß könnte genügen, um noch den letzten Mann aus dem Stadion zu vertreiben.
Klaus Hartung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen