: Gott würfelt nicht...
... er spielt Bingo / Dublins Kirchen finanzieren sich mit Glückspielen ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck
Die alte Dame mit frischer Dauerwelle bleibt vor meinem Stuhl stehen und starrt mich feindselig an. „Bleiben Sie ruhig sitzen, junger Mann“, sagt sie und meint offenbar genau das Gegenteil. Neben mir sind noch viele Plätze frei. Ihre Nachbarin klärt mich auf: „Sie sitzt seit Jahren auf diesem Stuhl, wenn hier Bingo ist.“ Und heute ist hier Bingo. Wir sind in der St.Andrew's Hall im Dubliner Hafenviertel, einem der ärmsten Stadtteile der irischen Hauptstadt. Die katholische Kirche hat das Gebäude einer Bürgerinitiative zur Verfügung gestellt, die kostenlose Sozialdienste für die Bewohner des Viertels anbietet. Um diese Dienste zu finanzieren, finden am Wochenende Bingo -Abende statt.
Bingo ist ein Glücksspiel. Vor Spielbeginn kaufen sich die TeilnehmerInnen ein Bingo-Buch. Jede Seite gilt für ein Spiel und enthält sechs Kästchen mit je 15 Zahlen. Der Spielleiter lost Zahlen zwischen eins und 90 aus, und wer zuerst alle Zahlen in einem Kästchen abhaken kann, gewinnt 30 Mark.
Bingo wurde in Irland von der katholischen Kirche eingeführt - zum Entsetzen ihrer protestantischen Kollegen. Als in den sechziger Jahren während des wirtschaftlichen Aufschwungs die Bevölkerungszahlen stiegen, mußten neue Kirchen gebaut werden. Das Geld dazu beschaffte sich der Klerus zum Teil durch Bingo. Heute hat jede Kirchengemeinde ihre eigene Bingo-Halle. Wenn an einem Abend besonders hohe Gewinne ausgezahlt werden, setzen die Veranstalter Sonderbusse für die Leute aus den benachbarten Gemeinden ein. Das Spiel ist eine Domäne der Frauen. Viele gehen jeden Abend in die Kirche und danach zum Bingo. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Ich entdecke zwei Männer in der St.Andrew's Hall. „Denen hat der Arzt den Alkohol verboten. Deshalb sind sie hier“, erklärt mir die alte Dame, die inzwischen auf ihrem angestammten Platz sitzt. Sie entpuppt sich als Profi. Aus ihrer Handtasche zieht sie ein großes Holzbrett mit fünf Klammern, unter die sie jeweils ein Bingo-Buch klemmt. Mir empfiehlt sie, mich als Anfänger mit einem Buch zu begnügen. Die Halle ist mittlerweile voll. Eddie, der Spielleiter, hat sein eigenes Mikrofon mitgebracht, das er sich ans Revers heftet. „Jetzt fühlt er sich wie Gay Byrne“, flüstert mir meine Nachbarin zu. Gay Byrne ist der irische Robert Lembke. Eddie ist Zollbeamter und arbeitet seit 25 Jahren in seiner Freizeit im Sozialdienst. Er hat eine graue Locke tief in die Stirn gezogen und spricht auf der Bühne mit einem Akzent, der seine Herkunft aus dem Hafenviertel nicht verrät.
Vor sich hat er einen viereckigen Kasten mit einem Fenster an der Vorderseite, durch das 90 bunte Kugeln zu sehen sind. „Es geht los“, sagt Eddie und schaltet den Kasten ein, der wie ein Kaugummi-Automat aussieht. Die Kugeln werden durcheinandergewirbelt. Dann saugt eine Art Rüssel eine der Kugeln nach oben. Eddie fängt sie geschickt auf und verkündet die Nummer. Sekunden später ist schon die nächste Kugel da. Für viele Zahlen hat Eddie seine eigenen Ausdrücke, die eingefleischten Bingo-SpielerInnen ein Begriff sind. Mir nicht. „Was sind denn zwei kleine Enten?“ frage ich die Profi-Spielerin. Das ist natürlich die 22“, sagt sie erstaunt über meine Ignoranz. Ich kann dem Spiel kaum folgen und versuche, die Zahlen bei meiner Nachbarin abzuschreiben. Plötzlich schreit jemand „Check“. Ein Herr im dunklen Anzug kontrolliert den Spielschein und zahlt den Gewinn aus. Sofort beginnt das nächste Spiel. Nach zehn Runden kann ich mich kaum noch konzentrieren. Gewonnen habe ich nichts. „Macht nichts“, sagt die alte Dame, „du mußt es halt jeden Abend versuchen. Aber du weißt ja jetzt, daß das hier mein Stuhl ist.“
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