: NABEL DES GELDES
■ Stuttgart - die fleißige schwäbische Metropole
Fünf Uhr morgens: die Königstraße ist menschenleer. Die letzten Taxifahrer der Nachtschicht dieseln nach Hause. Die Stuttgarter Lokalpresse wird von geübten Händen in die Briefkästen gesteckt. Nebel zieht durch den Stuttgarter Talkessel. Ein Penner schlurft, einsam mit seinem Schlafsack unter dem Arm, über die Straße, um ein neues, wärmeres Schlafquartier zu suchen. Es ist kalt für die zweitausend Wohnsitzlosen, die außer den 560.000 registrierten Einwohnern in Stuttgart leben.
Noch ist nichts zu spüren von der tagtäglichen Hektik der Innenstadt. Die „Berber“ sind unter sich auf der Straße, mit Ausnahme einiger Nachtschwärmer, die in einer Altstadtkneipe bis fünf Uhr morgens durchgemacht haben und sich eine Stunde lang bis zum Frühstück in der nächsten Kneipe die Beine vertreten müssen.
Morgendliche Ruhe im Stadtkern einer modernen deutschen Großstadt. Banken, Versicherungen, Kaufhäuser und Dutzende von Läden mit all dem Krimskrams bestimmen auch das Stadtbild der schwäbischen Metropole.
Erst zaghaft wird versucht, die Innenstadt wieder als Wohngebiet attraktiv zu machen. Das „Bohnenviertel“ und die Calwer Straße sind die wenigen sanierten oder neu gebauten Innenstadtbezirke, in denen morgens um sechs Uhr die Lichter hinter den Vorhängen angehen und schlaftrunkene Bürger, mit der Aktentasche bewaffnet, sich auf den Weg zur Arbeit machen. Hier kann noch gewohnt werden, wie man es auf alten Bildern sieht: im Stadtzentrum, den Tante-Emma-Laden unten im Hausflur, der Schloßplatz nur zwei Straßen weiter.
überall herrscht Sauberkeit. Peinlich genau schaut die Hausfrau, daß der aus dem Ruhrgebiet „eingewanderte“ Student in der Nachbarswohnung seine Kehrwoche macht: Treppen wischen, Bühne ausfegen, Keller reinigen und vor allem den Gehsteig kehren: Das gehört zu einer ordentlichen „Freitagsputzete“ im Schwabenland. Besonders ordentlich muß man sein, wenn die Wohnung in einem der hübschen Vororte bezogen wird, am Rande des Stadtbezirks in begehrter Halbhöhenlage.
Die Wohnsilokultur zog in den sechziger und siebziger Jahren allerdings auch in vielen Vororten ein. Es wurde gebaut, was das Zeug hielt. Die Stadt hatte deutlich über 60.000 Einwohner, und die Wirtschaft boomte. Der „Asemwald“, drei Hochhauskomplexe für Tausende von Menschen, mitten im Stadtwald erbaut, und das Wohngebiet „Freiberg“ sind zwei nicht zu übersehende Architekturzeugnisse aus dieser Zeit. Nur wenige Dörfer haben dieses Wachstum überlebt, zum Beispiel weil sie von Weinbergen eingerahmt sind und eine Ausdehnung nur auf Kosten der „Wengerter„-Einkommen gehen könnte.
Doch vom alten Slogan „Stadt zwischen Wald und Reben“ ist wenig übriggeblieben (ist schon seit mindestens 20 Jahren in „Stadt zwischen Hängen und Würgen“ umgenannt worden, d. s -in, die lange in Stuttgart wohnte). Der Neckarhafen verbindet die Stadt seit 1958 mit dem europäischen Wassernetz. Das einzig Idyllische am Neckar zwischen Bad Cannstatt und Obertürkehim sind die weißen Ausflugsdampfer, die ab und zu vorbeitümpeln. Neckarauf- und -abwärts wird ein Großteil der Kaufkraft der Industriemetropole erwirtschaftet. Eine große Sonderabfallbehandlungsanlage ist hier projektiert, Ladekräne, Schrotthandlungen, Mineralölfirmen und die Schornsteine der Industrie bestimmen die Szenerie. Zwischen Schnellstraße, Kloakenneckar und Bundesbahntrasse fristen verloren ein paar Schrebergärten ihr welkes Dasein.
Fließbandarbeiter suchen dort nach ihrem Wochenendglück. Unter der Woche verdienen mehr als 40.000 Menschen in Stuttgart ihre Brötchen und manchmal noch den Jahreswagen dazu, im Fahrzeugbau oder in der Zulieferindustrie für diese Sparte. Der Stern des größten Arbeitgebers dreht sich nicht mehr nur auf den Fabrik- und Verwaltungsgebäuden in Stuttgart-Untertürkheim, längst werfen die überdimensionierten Symbole ihre Schatten auf andere Stadtteile und Nachbargemeinden. Bis nach Seoul strahlte der „gute Stern auf allen Straßen“ im Verbund mit dem „Rößle“, dem Wahrzeichen der Stadt Stuttgart. Die Landeshauptstadt und die Daimler Benz AG waren mit einem Gemeinschaftsstand im Deutschen Haus der Olympischen Sommerspiele 1988 vertreten, und auf dem neuen Stuttgart-Plakat des Verkehrsamtes hilft ein Mercedes-Rennwagen bei der Werbung.
Die Stadtwerbung in Seoul hatte ihren guten Grund: Stuttgart und die Region Mittlerer Neckar stehen mit auf der Bewerberliste für die Olympischen Sommerspiele 2004. Mit schwäbischer Gründlichkeit will die Stadt ihren Slogan „Partner der Welt“ endgültig in die Tat umsetzen. Ein Olympia-Büro ist eingerichtet worden, der Rathaus -Verwaltungsausschuß hat sich schon in Barcelona über die dortigen Olympiavorbereitungen für 1992 erkundigt.
Stuttgart hat starke deutsche Mitbewerber um die Olympiade im nächsten Jahrtausend. Aber eines hat die Stadt am Nesenbach schon heute gemeinsam mit der Olympiastadt des Jahres 1988: Stuttgart protzt seit einigen Wochen mit einem „Hotel Intercontinental“. Im Schwabenland hat man nicht mehr nur Geld auf dem Konto, heutzutage zeigt man es auch und fühlt sich verdientermaßen aufgenommen in die Reihe der Weltstädte, die über solche Prunkhotels verfügen. Auch wenn dem Ensemble aus Glas, Beton und Naturstein ein Arbeitslosenzentrum mit verschandelter Fassade und der Mittlere Schloßgarten gegenüberliegen. Dort herrschen nachts rauhe Sitten, so daß zart besaitete Hotelgäste ihren Rückweg vom Theater nur mit Bodyguard antreten können.
Mit schwäbischem Fleiß hat Stuttgart es geschafft, Zentrum des „High-Tech-Musterländle“ zu werden, auch wenn es 1949 trotz aussichtsreicher Bewerbung nicht Bundeshauptstadt werden konnte. Herzog Liutolf war sich seiner Tat sicher nicht bewußt, als er am unbekannten Nesenbach anno 950 einen „Stuotgarten“, ein Gestüt, angelegt hat und sich dies im Laufe der Jahre zur Ansiedlung mauserte. Nach der Stadterhebung im Jahr 1219 wird Stuttgart 1496 zur Haupt und Residenzstadt des Herzogtums Württemberg erhoben, und König Friedrich macht es gar 1806 zur Residenz seines Königreiches Württemberg.
Stuttgart gelang es, sich auf der Hitliste der deutschen Städte nach oben zu spielen. 1955 entstand in der Schulstraße die erste Fußgängerzone Deutschlands. Der ein Jahr später erbaute Fernsehturm überragte mit seinen 217 Metern Höhe nicht nur die ihn umgebenden Bäume des Degerlocher Waldes, sondern zur damaligen Zeit alle anderen Türme Deutschlands.
Der Bezeichnung „Autogerechte Stadt“ macht Stuttgart alle Ehre: Das Radwegenetz wird nur schleppend ausgebaut. Mehr als 300 Meter Höhendifferenz vom Talkessel zu den umliegenden Hügeln und die Abgase von 283.000 Personenwagen zwingen selbst den letzten Öko-Freak dazu, vom Fahrradsattel in die Polster einer Schrottkarosse ohne Katalysator umzusteigen. Aber jetzt plötzlich können die Stadtoberen mit dem zweifelhaften Titel gar nichts mehr anfangen: Drastische Geschwindigkeitsbeschränkungen auf den Einfallstraßen, Rückbau von Straßen und sogar Fahrverbote für Nicht -Katalysator-Wagen bei verschmutzter Luft sind in der Diskussion. Verkehrsberuhigte Zonen und die Aktion „Laut ist out - leise fahren der Umwelt zuliebe“ sind weitere Maßnahmen, um Stuttgart das nicht mehr geliebte Image von der „Autogerechten Stadt“ wegzunehmen.
Wenn man sich abends mit der Menschenflut mittreiben läßt, die die Königstraße hinunterströmt, wird man unweigerlich am Bahnhof angeschwemmt. Die Innenstadt leert sich wieder. Zehntausende kehren in die Vorstädte zurück. Einige der 100.000 ausländischen „Mitbürger“, die sich zum Plausch in der Königstraße vor dem Bahnhof treffen, werden nicht beachtet. Die Schwaben haben es eilig. In der Klettpassage unter dem Bahnhof wird der dringende Einkauf vor der Heimfahrt erledigt. Bis 21 Uhr sind die Pforten der unterirdischen Einzelhandelsgeschäfte geöffnet und das schon seit zehn Jahren. Stuttgart hat es eben schon lange erreicht, seinen Bürgern den Einkauf im Mondenschein zu ermöglichen, bevor an einen generellen konjunkturfördernden Dienstleistungsabend gedacht wurde. Hoffentlich schafft Stuttgart vor lauter Ehrgeiz nicht das, was in einer Studie, die von der IG Metall in Auftrag gegeben wurde, prophezeit wird: „Die Abhängigkeit von der Autoindustrie könnte Stuttgart zum Liverpool der neunziger Jahre werden lassen.“ Aber wer glaubt das schon angesichts dessen, wie mächtig sich noch heute der beleuchtete Stern in der Dämmerung auf dem Hauptbahnhof dreht?
Jürgen Hemmelehle
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