Scheibengericht: Johannes Brahms, Conlon Nancarrow, UU's with the Motor Totemist Guild, Giacinto Scelsi, Rudi Zapf/Ingrid Westermeier, Douze Pour un, Ravel, The Entropics, Shostakovich, The London Jazz Composer's Orchestra

MONTAG, 9/1/8815 oJOHANNES BRAHMS

Die Vier Symphonien/Variationen über ein Thema von Haydn. Sinfonieorchester des NDR Hamburg/Wiener Philharmoniker/Berliner Philharmoniker; Wilhelm Furtwängler. Nuova Era 013.6332/34

28. Januar 1945: ein paar Wochen, bevor die Alliierten dem tausendjährigen Reich ein Ende setzen, spielen die Wiener Philharmoniker die zweite Sinfonie von Johannes Brahms. Zuhörer husten. Die Techniker sind nicht vorbereitet. Werden sie von einem Forte überrascht, ziehen sie rasch den Regler (mono) zurück, halten sie eine Passage für gar zu leise, machen sie schnell wieder auf. Die nächsten Instrumente sind deutlich zu hören. Das Mikrofon ist Zeuge der schwerfälligen Orchestermechanik. Ungelenk finden die Instrumentalgruppen zum blechernen Klang zusammen. Es ist wie beim Lesen alter Briefe auf dem Dachboden: Umständliches in halbverblichenen Lettern deutscher Schrift. 1950 die vierte Sinfonie in Salzburg, 1951 die erste in Hamburg, 1954 die dritte in Turin. Vom leichten Wandel technischer Unzulänglichkeiten abgesehen kein wesentlich anderes Klangbild. Nachkriegshusten. Die Geigen klingen, als hätte man sie mit Abrazzo geschrubbt. Manchmal eiert das Tonband. Die CDs dokumentieren vollkommen die technischen Unvollkommenheiten. Brahms im Rohzustand. Garantiert von Wilhelm Furtwängler. oCONLON NANCARROW

Studies f. Player Piano. Vol.V. Wergo CD WER 60165-50

Und das elektrische Klavier, das klimpert leise, wird aber durch die Stimmenvermehrung allmählich lauter. Die Stimmen jagen nicht einander nach, sondern treten als unabhängige Modelle zueinander. Der 1912 in Texarkana, Arkansas, geborene Conlon Nancarrow war zuerst Jazztrompeter und studierte, wie viele heute bekannte amerikanische Avantgardisten, bei Walter Piston und Roger Sessions. 1937 ging er mit der Abraham-Lincoln-Brigade nach Spanien und kämpfte gegen die Franco-Faschisten. 1939 wurde er deshalb von der Bundesregierung in den Vereinigten Staaten verfolgt und zog sich nach Mexico City zurück, wo er bis heute lebt. Sein musikalisches Interesse ist vor allem auf Rhythmus und Tempo konzentriert. Und weil seine komplexen Stücke mit ihren rasend schnellen Läufen von keinem Pianisten zu bewältigen sind, stanzt er mit der Hand für sein elektrisches Klavier Löcher in Papierrollen und erreicht damit eine Anschlagsdichte, in der die rhythmisch unabhängigen Tonfolgen tendenziell zu Klangfarbenstrukturen zusammenschmelzen. In Nancarrows Studio wurden auf diese CD die Studie Nr. 42, die Studien Nr. 45a'b'c, 48a'b'c und 49a'b'c eingespielt: verrückte Musik. Über die Interpretation muß ich nichts sagen. oUU'S WITH THE MOTOR TOTEMIST GUILD

Elements. ReR Megacorp ReR 33/Recommended No Man's Land

Die Familienverhältnisse sind so, daß David Kerman, Perkussionist bei James Grigsbys „Motor Totemist Guild“, dieselbe zur Mitarbeit an einer Platte gewonnen hat, die er mit seiner eigenen Gruppe, den „5 UU's“, allein nicht realisieren konnte. Die Stücke klingen so, als hätten „Art Bears“ und „Gentle Giant“ posthum fusioniert: Ante Punk Art Rock, der sich in alle denkbaren Stilrichtungen verläuft, metrisch und rhythmisch verhakelt, sperrige Melodik bewahrt und flink wechselnder Ausdrucksweisen bedient. Erstaunlich, daß so etwas in Kalifornien entstehen konnte. oGIACINTO SCELSI

Suites No. 9 and No. 10 for piano. Marianne Schroeder, Klavier. hat ART CD 6006

„Diese Suite muß mit der größten inneren Ruhe gehört und gespielt werden. Aufgeregte mögen sich enthalten!“ lautet die Anweisung für die 9. Suite. Ich mag solche Anweisungen, weil ich da immer genau weiß, woran es lag, wenn mir ein Stück nicht gefiel. Aber gerade mit der 9. Suite hatte ich solche Probleme nicht. Der sizilianische Edelmann Giacinto Scelsi, der im letzten Jahr gestorben ist, hat 1953 diese Folge einfach gebauter Episoden mit dem Titel „Ttai“ improvisiert, und Marianne Schroeder hat sie zum ersten Mal eingespielt: Gelassen und eindringlich treten die Klänge zueinander - das ist zeitgenössische (!) Musik, die keiner Erklärung bedarf, sie erschließt sich Schritt für Schritt selbst. Um einiges kühler wirkt die ein Jahr später konzipierte 10. Suite mit dem Titel „Ka“, was soviel wie „Wesen“ oder „Essenz“ bedeutet: musikalische Objekte, exponierte Teilaspekte eines Einzeltones, die eigenwillig untereinander in Beziehung treten. Das muß man sich allerdings in Ruhe anhören. oRUDI ZAPF/INGRID WESTERMEIER

Hammer Dolce. Trikont US/EfA 09-00153

Das habe ich mir schon lange gewünscht: Schumanns „Träumerei“ auf dem Hackbrett. Rudi Zapf (Pedal-Hackbrett) und Ingrid Westermeier (Gitarre), die seit 1982 zusammenarbeiten, haben eine tadellos produzierte Platte mit Stücken bespielt, die ursprünglich für Klavier geschrieben waren: drei von Chick Coreas „Children's Songs“, Lyrische Stücke von Edvard Grieg, Kinderszenen von Robert Schumann, zwei Tänze von Enrique Granados und ein Intermezzo von Manuel Ponce. Am besten gefallen mir die sechs rumänischen Volkstänze von Bela Bartok. Die haben ihren harmonisch -melodischen Reiz und werden von Rudi Zapf auch einfallsreich „instrumentalisiert“. Sonst ist mir das Programm zu gefällig und unverbindlich. oDOUZE POUR UN

Vol. 2. AYAA dt 1187/Recommended No Man's Land

„Douze pour un“ ist keine feste Formation, sondern ein Freundeskreis von 13 französischen Musikern aus den Bereichen der Rock-, Jazz-, Folk-, der elektronischen und der klassischen Musik, aus dem sich gelegentlich ein paar treffen, um über die Kombination ihrer handwerklichen Eigenarten zu Neuartigem zu kommen und schließlich auf einer Compilation die unterschiedlichsten Ergebnisse zu veröffentlichen. Auf dieser zweiten LP findet man denn eben auch den banal polternden Tanz und die Blockflötenfolklore, aber auch Harfenarpeggien zum Orgelsequenzer, minimalistisch verschobene Bandschleifen, spröde Rockdeklamationen, durch Sampling zerhackte Lieder - alles ein wenig schräg, nicht alles gut genug: ein Brutkasten musikalischer Kreativität. Aus einigen Eiern sind skurrile Vögel geschlüpft. oRAVEL

Piano Concertos/Menuet antique, Le Tombeau de Couperin, Fanfare. Martha Argerich, Michel Beroff, Klavier; London Symphony Orchestra, Claudio Abbado. Deutsche Grammophon CD 423 665-2

Bisher ist mir die diskriminierende Kategorie „Unterhaltungsmusik“ zuwider gewesen, weil ich selbst die extremsten kunstmusikalischen Ansprüche - und eben deshalb unterhaltsam fand, das hingegen, was mir als Unterhaltungsmusik angeboten wurde, zumeist auf belästigende Weise öde. Ravel aber schrieb brillante Unterhaltungsmusik. Die Maßstäbe, die Beethoven für seine Konzerte setzte, interessierten ihn nicht. Sein G-Dur-Klavierkonzert, das von Martha Argerich mit flinker Eleganz ausgeführt wird, ist ein geschicktes Arrangement orchestraler Effekte, das „Menuet antique“ bedient sich Wendungen der französischen Klassik, nicht aber deren Verarbeitungsmethoden, ebenso beschränkt sich der Bezug auf die Cembalomeister des 16. und 17. Jahrhunderts im „Tombeau de Couperin“ auf das Kolorit, der Rest ist feinsinnige Ballettmusik aus dem Jahr 1917. Mit expressiver und widerständiger Instrumentierung und vergleichsweise strenger formaler Gestaltung geht das gleichzeitig mit dem G-Dur-Konzert komponierte und 1932 uraufgeführte „Konzert für die linke Hand“ über all das hinaus. Der Wiener Pianist Paul Wittgenstein, der ohne rechten Arm aus dem Ersten Weltkrieg kam, hatte es bei Maurice Ravel bestellt und konnte erst wenig damit anfangen: „Ich war von der Komposition nicht überwältigt. Ich brauche immer eine Weile, bis ich in ein schwieriges Werk hineinwachse. Ich glaube, Ravel war enttäuscht, und das tat mir leid, aber ich hatte nie gelernt, mich zu verstellen. Erst viel später, nachdem ich das Konzert monatelang studiert hatte, wurde ich davon fasziniert und merkte, um welch großes Werk es sich handelte.“ Mit Michel Beroff auf CD geht das selbstverständlich schneller, und Claudio Abbados konzentrierte Präsentation läßt keine Wünsche offen. oTHE ENTROPICS

Spagga! Popllama PL-6469/Recommended No Man's Land

„The Entropics“ bestehen aus Amy Denio (voice, bass, guitar, sax, drums, titanium and other minerals) und David Stern (voice, keyboard, saxes, clarinet, drums, surplus metal) und liegen nach den herkömmlichen Vorstellungen von einer satten Popmusik völlig daneben. Mit den Instrumenten spinnen sie abstruse Patterns zusammen und sind dabei bemüht, die Individualität des Heimwerker-Sounds zu erhalten. Trotzdem setzen sie nicht auf Dilettantismus, wissen genau, was sie wollen, und setzen es professionell um, ohne das Bedürfnis nach klangästhetischer Attraktivität zu bedienen. Sie sind Partisanen im Spiel der Wirkungszusammenhänge. In ihren Texten behandeln sie die totale Präsenz des FBI, die totale Kommunikation (der Sprachlosigkeit) oder die verinnerlichte Schwarz-Weiß-Dramaturgie der Comic-Strips. Das Gegenteil von „Don't worry, be happy“. oSHOSTAKOVICH

Film Music from Hamlet, King Lear, Five days and five nights. Belgian Radio Symphony Orchestra (RTBF), Jose Serebrier. RCA Victor CD RD 87763

In Schostakowitschs Filmmusik hört man noch, was auf der Leinwand passiert. Da wird mit allen Klangfasern gekämpft, getanzt, intrigiert, getändelt, deliriert, getrauert und gestorben. Er läßt dreinschlagen, daß die Boxen zittern, ist nie sentimental und nie geschwätzig. Die Gestik hat nichts von der Hohlheit und Leere der aus Hollywood. Schostakowitsch komponierte geradezu filmwidrig engagiert. „Eine seiner ersten Stellungen als junger Musiker war die eines Pianisten in einem Leningrader Stummfilmkino: diese Periode dauerte allerdings nicht lange, denn er reagierte so heftig und lautstark auf die Ereignisse auf der Leinwand, daß man ihn bald entließ“, berichtet der Dirigent dieser Aufnahme. Zu hören ist diese ungehemmte Wucht vor allem in der Hamlet-Musik, die hier allerdings in der Suitenform aus der Musik zum Film „Hamlet“ (von Kosinzew) wiedergegeben wird. Des Komponisten letzte Filmmusik, wieder für Gregori Kosinzew, „King Lear“ ist dagegen unverändert eingespielt. Auch da herrscht kompositorische Entschiedenheit, aber ein wesentlich sanfterer Erzählduktus und ein differenziertes Klangbild. Beigefügt ist die dreisätzige Suite zum Film „Fünf Tage - Fünf Nächte“, für den Schostakowitsch 1960 nach Dresden fuhr. Beschrieben wird darin die Bergung des Bestands der Dresdner Gemäldegalerie durch sowjetische Soldaten, während die Stadt bombardiert wurde: breitangelegte Orchestergemälde - das bot sich an - mit einer groben „Ode an die Freude“ in der Mitte. oTHE LONDON JAZZ COMPOSER'S ORCHESTRA

Zurich Concerts. Intakt 004/005. Recommended No Man's Land

1970 hat der Kontrabassist Barry Guy das London Jazz Composer's Orchestra gegründet, 1987 spielte es in der Roten Fabrik Zürich seine Komposition „Polyhymnia“, 1988 auf dem Taktlos-Festival ebenda die Kompositionen 135(+41,63,96), 136(+96), 108B(+86,96), 134(+96) von Anthony Braxton. „Die Aufführungen dieser Werke durch das London Jazz Composer's Orchestra“, schreibt John Fordham auf dem Beiblatt, „sind faszinierende Beispiele kühner Musik, die auf der Grenzlinie zwischen den Idiomen entstandenist ... Vor allem aber sind sie Klangdemonstrationen eines enormen Spektrums, das entsteht, wenn geschriebene und improvisierte Musik kombiniert werden - vorausgesetzt, sie werden von sensiblen Tabu-Brechern gespielt.“ Ich habe die vier Plattenseiten mehrfach nach Kühnheit abgesucht und ebenso erfolglos nach Tabus, die da gebrochen werden oder werden könnten. Was ich höre, sind die nicht gerade originell komponierten Guy -Passagen - instrumentale Auftürmungen, Skalen - und Braxtons Unisono-Formeln, sauber gespielte, verzwickte Soli und manchen einfühlsamen Übergang, aber nichts Ungewöhnliches, nichts, was über die freie Ensemble -Improvisation, wie sie sich einmal eingerichtet hat, hinausginge; dafür dräuende Steigerungen, die der Himmel oder das Ritual zu gebieten scheint, solistische Klangfarbenmuster, die von den anderen imitiert werden, aber keine Spannungsbögen, die weit, geschweige denn ein langes Stück über tragen würden. o