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Kon-Fusion in Europa

■ Mit der Aufgreifschwelle zur Angriffswelle / Der Streit um die Fusionskontrolle

Teil 1: Dietmar Bartz

„Aufgreifschwelle“ - ein Begriff macht die Runde. Doch handelt es sich hier nicht um Befestigungen für Eisenbahngleise, die manuell abgebaut werden können; und ebensowenig hat sie ein Polizist zu überwinden, bevor er heimatlos wirkende Personen der staatliche Verwahrung überantwortet.

Aufgreifschwellen führen zu bürokratischer und politischer Tätigkeit. Wenn sich zwei Unternehmen zusammenschließen möchten oder eines ein anderes schlucken will, legen Aufgreifschwellen etwa die Umsatzgrenze fest, ab der eine Kartellbehörde eine solche Fusion überprüfen muß. Die Aufgreifschwellen, die für das zukünftige Binnenmarkt-Europa gelten sollen, haben eine entscheidende Bedeutung dafür, in welcher Geschwindigkeit und Form die Konzentration in den wirtschaftlichen Schlüsselbereichen, aber auch in den weniger lukrativen Branchen im kommenden Jahrzehnt voranschreiten wird. Zugleich zeigen sie an, in welchem Maße die PolitikerInnen in Brüssel nach Möglichkeiten suchen, im Monopolisierungsprozeß ein Wörtchen mitreden zu können.

Schließlich hat kaum sonst jemand einen so breiten Überblick darüber, in welchem Umfang das Fusionskarussell noch angeheizt werden wird, nicht allein im Vorgriff auf den Binnenmarkt, sondern auch für die Zeit, wenn die Schranken tatsächlich hochgegangen sind. Der Bericht des Italieners Paolo Cecchini etwa, der im Auftrag der EG-Kommission die „Kosten der Nichtverwirklichung Europas“ untersuchte, ging im April letzten Jahres durch die Medien, weil er euphorisch die „Wohlstandsgewinne“ durch den Binnenmarkt feierte. Kaum beachtet blieben die Passagen, in denen seine Arbeitsgruppe den Konzentrationsprozeß in einigen Branchen untersuchte. Allein die EG-weite öffentliche Ausschreibung von Staatsaufträgen, diagnostiziert der „Cecchini-Bericht“ kühl, hätte bei den vier großen Ländern und in Belgien folgende Konsequenzen: Die Zahl der Betriebe, die Heizkessel herstellen, fällt von derzeit 15 auf vier. Die Hersteller von Elektrolokomotiven schrumpfen von 16 auf „drei oder vier“. Und von den fünf Herstellern digitaler Schaltzentralen „dürften in der EG langfristig lediglich zwei Unternehmen überleben“.

Das ist nur ein winziger Ausschnitt - doch so konkret sind die Erwartungen. Der Streit zwischen den Regierungen um das zukünftige europäische Kartellrecht wird dabei mit einer ähnlichen Härte geführt wie etwa der um eine Europäische Zentralbank. Die EG-Politiker sind sich wenigstens darüber einig, daß sie ein gewichtiges Wort mitsprechen möchten, wenn die Konzerne zusammenwachsen; davon, daß man sich etwa auf eine Anzeigepflicht beschränkte, ist kaum die Rede. Völlig unterschiedliche Auffassungen gibt es jedoch darüber, was überhaupt das Ziel einer solchen Kontrolle sein soll.

Wettbewerbs-Philosophie

gegen Industrie-Politik

Der Kampf verläuft vor allem zwischen Bonn und London einerseits sowie Paris und Rom andererseits. Geht es darum, die marktbeherrschende Stellung von Konzernen zu verhindern, also um eine Wettbewerbspolitik wie in der BRD? Oder um eine Industriepolitik, bei der wie in Italien die notwendigen Genehmigungen dazu genutzt werden, Beschäftigungs-, Standort - oder Investitionsauflagen zu erteilen? Und soll - etwa nach den präzisen französischen Vorstellungen - ein protektionistisches Kartellrecht auch Monsterfusionen zulassen, damit die EG-Hauskonzerne gegen ihre Konkurrenten aus Japan und den USA bestehen können?

Zahlen sind natürlich auch im Spiel. Die EG-Kommission hat den zwölf Regierungen einen Entwurf vorgelegt, wonach sie zuständig wird, sobald die an der Fusion beteiligten Unternehmen weltweit mehr als eine Milliarde ECU (derzeit 2,07 Milliarden Mark) oder in der EG mindestens 100 Millionen ECU umsetzen - also eine recht niedrige Aufgreifschwelle. Die Bundesregierung will eine erheblich höhere Umsatzgrenze, ab der die Genehmigung aus Brüssel kommen muß: zehn Milliarden ECU weltweit oder eine Milliarde in der EG.

Dieses Kompetenzgerangel hat handfeste Auswirkungen: Unterhalb der Aufgreifschwelle bleibt nationales Recht gültig. Während in dem von Maggie Thatcher favorisierten „Europa der Wirtschaft“ der Staat überhaupt keine Rolle mehr spielen sollte, hält die Bundesregierung die „Wettbewerbsphilosophie“ ihres Kartellrechts für die beste in Europa; auch ihr ist daran gelegen, der EG-Kommission möglichst wenig Kompetenz zukommen zu lassen.

Denn in der Tat steht die Kommission heftig im Verdacht, Industriepolitik betreiben zu wollen, mit einem ordentlichen Schuß Protektionismus vermischt. Schließlich heißt es im letzten Kommissionsentwurf zur Fusionskontrolle, daß dann eine Genehmigung erteilt werden könne, wenn die wirtschaftlichen Vorteile die Wettbewerbsnachteile übersteigen. Mehr als nur Kosmetik war es auch, daß in dem Papier nicht mehr wie bislang vom Verbot der Marktbeherrschung die Rede war, sondern nur noch vom Verbot der Wettbewerbsbehinderung.

Entfesselter Markt?

Auf den ersten Blick wirkten die Pläne aus Brüssel kapitalfreundlicher als die aus Bonn, finden etwa auch die Spitzenverbände der bundesdeutschen Industrie. Bei der hohen Aufgreifschwelle von zehn Milliarden ECU EG-Umsatz kann es nämlich schnell dazu kommen, daß ganze Wirtschaftsbereiche oder gar komplette Mitgliedstaaten beim nationalen Recht bleiben. Und da es in einer ganzen Reihe von EG-Ländern kein vergleichbares Kartellrecht gibt, können sich Konzerne dort nahezu ungehindert gegenseitig schlucken, bis sie die EG -Aufgreifschwelle erreicht haben. Notwendige Konsequenz: Wenn nur die allergrößten Fälle in Brüssel verhandelt werden, muß man auch die kleinen Fische laufenlassen, die etwa dem bundesdeutschen Kartellrecht unterliegen. Die wären sonst gleich doppelt benachteiligt, gegenüber den vergleichbaren Konkurrenten aus anderen Mitgliedsländern und auch gegenüber den ganz großen Multis. Die sind im einen wie im anderen Fall mit Brüssel beschäftigt und dürfen im Zweifel gegenüber der Kommission „europäisches Interesse“ geltend machen.

Kein Wunder, daß die bundesdeutsche Industrie alle ihre Verbandsmacht einsetzt, um die Bundesregierung zur Nachgiebigkeit bei der Aufgreifschwelle zu bewegen. Doch auch die Lobby spreizt sich zum Spagat.

Denn eine staatliche Industriepolitik nach französischem oder südeuropäischem Vorbild kommt gleich für mehrere Gruppen nicht in Frage. Gerade die mittelgroßen britischen und bundesdeutschen Gruppen, die noch nicht durch ihre schiere Größe quasi staatstragenden Charakter bekommen haben, wollen ungehindert agieren. Sie wollen sich in ihrem Wachstums-Zukauf weder von regional- noch sozialpolitischen Auflagen noch von staatlich auferlegten Umstrukturierungen aufhalten lassen. Schon heute stehen sie in Konkurrenz zu maroden, aber subventionierten staatlichen oder halbstaatlichen Betrieben, die von ihren Regierungen vor allem wegen der Arbeitsplätze erhalten und gepäppelt werden.

Festung Europa - ein

ungünstiger Standort

Das Hauptargument geht allerdings darüber hinaus. Es wäre überaus verwunderlich, wenn die Industriepolitik nach innen nicht auch mit dem Protektionismus nach außen Hand in Hand ginge. Falls in den 90er Jahren zwischen Japan, den USA und der EG nicht mehr über den Freihandel, sondern nur noch über die „gleichen Chancen für den gegenseitigen Marktzutritt“ verhandelt wird, stehen auch Subventions- und Regulierungsfragen auf der Tagesordnung. Weltweit agierende Konzerne, die ihren Sitz in der „Festung Europa“ haben, liefen Gefahr, zur Vergeltung aus den anderen Märkten entfernt zu werden.

Je niedriger die Aufgreifschwelle, desto mehr Industriepolitik kommt aus Brüssel. Doch je höher die Aufgreifschwelle, desto weniger einheitlich wird das Fusionsrecht. Große und mittlere Konzerne, die europa -orientiert sind oder Hilfe gegen die Konkurrenz in Übersee brauchen, greifen bei Fusionsfragen auf Brüssel zurück, auch zum Preis, etwa bei Standortfragen Zugeständnisse zu machen. Diejenigen aber, die weltweit agieren und den Freihandel auf ihre Fahnen geschrieben haben, werden davon heftig gefährdet.

Die EG-Kommission

Davon brauchte die Bundesregierung nicht erst überzeugt zu werden; dennoch hatte Martin Bangemann, als er noch Wirtschaftsminister in Bonn war, zunächst die niedrigere Schwelle akzeptiert. Ein Sturm der Empörung erhob sich, als der Entwurf Ende letzten Jahres innerhalb weniger Wochen verabschiedet werden sollte - allerdings sorgten weniger die Schwellen als die plötzlichen Hektik und die protektionistischen Bestimmungen für Empörung. Bei der Ein -Milliarden-Schwelle hätte das „bewährte“ Bundeskartellamt gleich aufgelöst werden können. Weil die Bundesregierung jetzt erst einmal auf zehn Milliarden ECU hochgegangen ist, hat die Freihandelsfraktion Zeit gewonnen, die neuen Forderungen gegen die Industriepolitik der EG-Kommission auf den Tisch zu legen.

Als besonders glaubwürdig gilt die Bonner Regierung dabei nicht, sitzt ihr doch ein EG-Kommissar Bangemann gegenüber, der zuvor mit dem Einstieg von Daimler bei MBB überhaupt eine Vorstellung davon vermittelt hat, was EG -Industriepolitik sein kann. Andererseits ist zwar Bangemann in den nächsten vier Jahren für „Binnenmarkt und Industrie“, nicht aber für den Wettbewerb zuständig - das erledigt der erzkonservative Leon Brittan, boshaft „Maggies Schoßhündchen“ genannt und von ihr ausdrücklich auf diesen Posten gewünscht.

Zwei Übergänge feiern EG-Kommission wie Regierungen besonders gerne: den Wechsel vom Konsens- zum Mehrheitsprinzip und den Beschluß, daß das Gemeinschaftsrecht absoluten Vorrang vor den Einzelrechten hat. Zwar gibt es gleich den nächsten Streit - ob nämlich die geplanten Auf- und Eingreifvorschriften nicht der vereinbarten Wettbewerbs-Orientierung widersprächen. Doch das machen die Regierungen weitgehend unter sich und mit ihren Wirtschaftsverbänden aus. Im Sommer wollen sich die beiden Fraktionen endgültig auf die neue EG-Fusionskontrolle geeinigt haben. Vielleicht holt Martin Bangemann dann gleich die Pläne für den europäischen Luft- und Raumfahrtkonzern aus der Schublade.

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