: Was hat Ovid mit dem Fahrplan zu tun
■ Überlegungen zum Streik der Schülerinnen und Schüler / 600 demonstrierten am Sonnabend gegen die Bildungspolitik des Senates / Die Jugendlichen sind vernünftiger als ihnen unterstellt wird / Sie fordern Mitbestimmung, Pressefreiheit und besseren Unterricht
Etwa 600 Schüler haben nach Angaben der Polizei am Sonnabend gegen die Bildungspolitik des Senats demonstriert. Sie wanderten vom Wittenbergplatz zum Schulsenatsgebäude in die Bredtschneiderstraße, wo sie in einer Kundgebung ihre Forderungen vortrugen. An vielen Schulen wird seit heute erneut gestreikt oder in Vollversammlungen über Streik abgestimmt. Gestern war Gesamt-Schüler-VV, eine AG schreibt einen Brief an Schulsenatorin Laurien, andere bereiten Aktionstage vor. Was bringt Zwölfjährige dazu, sich aus freien Stücken vor Polizeiwannen zu setzen? Wo nehmen die Jugendlichen diese Kraft und das Organisationstalent her?
„Es ist nicht zu fassen: Da kann er Funktionen und Parabeln berechnen und Ovid im Original lesen, aber mit einem Fahrplan der Bundesbahn kommt er nicht klar!“ Dieser bildungspolitisch gemeinte Stoßseufzer entwich einer von Unterrichts-Reformdiskussionen geplagten Mutter eines damals 17jährigen Gymnasiasten vor ungefähr 15 Jahren. Sie hießen noch „Primaner“ und gehörten zu den ersten, die die reformierte Oberstufe ausprobieren durften.
Heute ist das Kurs-Wahlsystem längst Schullalltag. Die „Kinder“ sind mit 18 volljährig und verreisen schon mit 15 ohne Eltern, mit Rucksack und Selbstbewußtsein. Den Fahrplan können sie lesen, weil sie's brauchen - aber in der Schule gelernt haben das nur die wenigsten. „Mehr gesellschaftsbezogenen und praktischen Unterricht“ fordern die Schüler nun. Und es geht ihnen beileibe nicht nur um Fahrpläne. Vor allem Rechts- und Staatsbürgerkunde sind gemeint. Als zukünftige Mieter wollen sie informiert werden über das Mietwohnrecht und als Schüler beschweren sie sich darüber, daß niemand es für nötig hält, sie mit dem Schulverfassungsgesetz vertraut zu machen.
Wenn Kinder um Gehör bitten, dann lügen sie nicht. Wenn sie den Sinn nicht einsehen, Homer-Texte studieren zu müssen, während sie nicht lernen dürfen, warum Stadtplanung in ihrem Bezirk so betrieben wird, wie's getrieben wird, dann meinen sie es ehrlich.
Zum Beispiel gab es da mal vor kurzem in der Vergangenheit eine unangenehme deutsche Epoche. All die schrecklich bösen Dinge, die damals geschehen sind, viel zu grausam, um sie dem zarten Gemüt unserer „lieben Kleinen“ zuzumuten. Doch unser Nachwuchs verlangt, zu wissen. „Jeder Schüler sollte eine KZ-Gedenkstätte besucht haben.“ Forderung von jungen Gemütern, die sich nicht als zu zart besaitet für solche Themen einstufen.
Im Gegenteil: Sie sind robust genug, zu streiken, Schulen zu besetzen und zu demonstrieren. Nicht am Schuleschwänzen sind sie interessiert, sondern an inhaltlicher Arbeit und wirklicher Veränderung. Vernunft regiert diese Jugend, wie selten zuvor eine Jugendbewegung. Wer ihren Forderungskatalog als „zum größten Teil absurd“ (ein Schuldirektor) bezeichnet, hat ihn entweder nicht gelesen oder schleppt eine seit mindestens 20 Jahren als gefährlich erkannte Einstellung mit sich herum: die Auffassung nämlich, daß unmündige Kinder vernunftlos seien und zu schweigen hätten, bis sie gefragt würden.
Die jetzt ungefragt reden, Siebtklässler ebenso wie Abiturienten, haben sich ihre Ansprüche in langen Diskussionen bewußt gemacht und seriös formuliert. Eine „paritätische Mitbestimmung in allen schulrelevanten Gremien“, keine Kürzung der Unterrichtsstunden, Anwendung des Presserechts auch auf die Schülerzeitungen, Integration behinderter Schüler und Lehrer, „Bildungsrecht für Immigranten“, Schüler-Bafög und günstiger Wohnraum für alle
-utopische Hirngespinste a la „Ho-Tschi-Minh“ sind in diesem Katalog nicht zu finden. Langfristige Forderungen wie „Abschaffung des bestehenden Bewertungssystems, Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems, Einführung von fächerübergreifendem Unterricht, speziell des Faches Ökologie sowie eines feministischen Unterrichtsfaches“ sind keine Träumereien, sondern zeitgemäße Erkenntnisse.
Nicht gegen das humanistische Bildungsideal gehen sie vor. Für eine Schule, die mit der Zeit geht, setzen sie sich ein. Für eine Unterrichtsqualität, die den Bedürfnissen früh erwachsen und selbständig gewordener Kinder entspricht.
Germaine Bortfeldt
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