piwik no script img

Action directe: Lebenslänglich in die Isolation

Am Wochenende sprachen die Pariser Richter das Urteil im Prozeß gegen die Führungsmitglieder der Untergrundorganisation Unstimmigkeiten bei der Anklage / Sozialistische Regierung hintergeht AD-Abkommen mit dem ehemaligen Justizminister  ■  Aus Paris Georg Blume

Die französischen Behörden haben ihr Verhältnis zur taz offenbar noch nicht vollständig geklärt. In Berlin gehören sie zu denen, die die Zeitung überwachen, in Paris aber gewährten sie dem taz-Korrespondenten nahezu unbehelligt und Taschenkontrolle Eintritt in den Schwurgerichtssaal. Hier sprachen die Sonderrichter am Samstag in Sachen „Action directe“ das Urteil. Vier lebenslängliche Freiheitsstrafen (Mindesthaftzeit 18 Jahre) verhängten sie über das Führungsquartett der französischen Untergrundorganisation „Action directe“ (AD). Jean-Marc Rouillan, Nathalie Menigon, Joelle Aubron und Georges Cipriani aber konnte das kaum überraschen. „Dieser Prozeß ist eure Sache und betrifft uns deshalb nicht“, hatte Nathalie Menigon schon zu Prozeßbeginn vergangenen Montag festgestellt - worauf sie und ihre Freunde in den folgenden Tagen den Gerichtssaal nicht mehr betraten. Mit gutem Grund: Im Nebenraum konnten sie sich nach langer Trennung - der letzte Prozeßtermin liegt neun Monate zurück - ungestört miteinander unterhalten.

In Abwesenheit der Angeklagten konnte das Verfahren im Fall des ermordeten Renault-Chefs Georges Besse reibungslos über die Bühne gehen. Nach dem Willen ihrer Mandanten verzichtete die Verteidigung auf alle Zwischenfragen. Die Zeugen Passanten und Nachbarn des ermordeten Renault-Chefs erklärten dem Gericht, zumindest Menigon und Aubron als die verantwortlichen Attentäter wiederzuerkennen. Andere bezeugten, das „Profil“ Rouillans und Ciprianis erkannt zu haben. Nach Aussagen von Experten sei im Versteck der Angeklagten die Mordwaffe aufgefunden worden sowie Teile der Aktentasche, die Besse zur Tatzeit in der Hand trug, darüber hinaus die ersten Bekennerbriefe für das Attentat. Wer also konnte nach den ersten Prozeßtagen noch Zweifel daran haben, daß es sich bei den Angeklagten tatsächlich um diejenigen handele, die am 17. November 1986 gegen 20 Uhr den spektakulärsten Anschlag der AD-Geschichte verübten?

Zweifel kamen erst auf, als AD-Hauptverteidiger Maitre Bernard Ripert am letzten Prozeßtag sein Plädoyer hielt und damit auch die Journalisten überraschte. Ripert verwies auf Unstimmigkeiten bei den Aussagen der Tatzeugen. Die Angeklagte Aubron sei beispielsweise erst nach mehrmaliger Vorführung und nur unter Vorbehalten von einem einzigen Zeugen identifiziert worden, dessen Aussage die Staatsanwaltschaft heute als zentrales, unanfechtbares Argument gegen Aubron präsentiere. Widersprüche sah Ripert weiterhin bei den Angaben von Zeugen und Experten über die Mordwaffe: Während die Zeugen allesamt von einem Maschinengewehr sprachen, hätten die Experten nur einen Revolver festgestellt. Die Liste der Widersprüche, die Ripert aufführte - und die bis dahin im Prozeßverlauf nicht erwähnt wurden - war lang und ließ die Verteidigung zu dem Schluß kommen: „Der einzige Beweis, über den das Gericht gegen die Angeklagten verfügt, ist ihre Mitgliedschaft bei 'Action directe‘.“ Als erklärte AD-Mitglieder, argumentierte der Anwalt demnach, haben sich die Angeklagten zur „politischen Verantwortung“ für das Besse-Attentat bekannt. Dem Gericht aber stünde es nicht an, auf Grundlage eines solchen Bekenntnisses Urteile zu sprechen - es müsse vielmehr die individuelle Schuld der Angeklagten unter Beweis stellen. „Mein Ziel war es nicht, auf mildernde Umstände zu klagen, sondern einzig und allein, den Mechanismus der gerichtlichen Repression und Manipulation in diesem Fall zu entlarven“, erklärte Ripert später. Am ersten Prozeßtag hatten die Angeklagten in ihrem Dialog mit dem ehemaligen Industrie- und Verteidigungsminister Giraud, der als Freund des Ermordeten vorgeladen war, gezeigt, daß sie politisch noch nicht von der Bühne abgetreten sind. Sie befragten den Ex-Minister nach der Greenpeace-Affäre, nach den Regierungslügen im Anschluß an die Tschernobyl -Katastrophe und nach dem Verbleib der französischen Neutronenbombe.

Stand der jetzige Prozeß für Rouillan und seine Gefährten unter dem Zeichen der direkten politischen Konfrontation, so dürfte sich die Strategie der Gefangenen bald wieder auf die Überlebensbedingungen in der Isolationshaft konzentrieren. Eine Übereinkunft zwischen den AD-Verteidigern und dem Kabinettschef im Justizministerium, so wurde mit der Stimme Riperts am Samstag erstmals bekannt, hatte im letzten Jahr zum Ende des 116tägigen Hungerstreiks von Rouillan, Menigon, Aubron und Cipriani geführt. Das Chirac-Ministerium gestattete damals, daß die Gefangenen in benachbarten Zellen untergebracht wurden und somit Möglichkeiten zum Austausch hatten. Erst die sozialistische Regierung hob diese Maßnahmen im Oktober wieder auf. „In absehbarer Zeit“ sei damit ein erneuter Hungerstreik der AD-Mitglieder „unabwendbar“, sagte Ripert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen