: Rituale statt Erneuerung
Die Rituale im SED-Staat funktionieren nicht mehr. Mit ideologischer Unterstützung aus der Sowjetunion sind die sozialistischen Untertanen in der DDR immer weniger bereit, die anachronistische Einengung von Freizügigkeit und demokratischen Mitwirkungsrechten klaglos hinzunehmen. So kann es nicht überraschen, daß sich jetzt in Leipzig ähnliches ereignet wie vor einem Jahr in Ost-Berlin. Damals hatte die SED ihre Toleranzgrenze im Umgang mit kritischem Engagement eindringlich demonstriert, und nach der relativen Liberalität im Jahr des Honecker-Besuchs in der BRD eine deutliche Zäsur gesetzt.
Am 17.Januar 1988 hatten DDR-Bürger mit eigenen Plakaten am traditionellen Kampfappell für die 1919 ermordeten KPD -Führer teilgenommen und so ihre Unzufriedenheit öffentlich bekundet. Die Aktion, die einen Kommentator des 'Neuen Deutschland‘ an „Gotteslästerung“ denken ließ, geriet dem Staat zum Anlaß für eine Repressionswelle, die die europäische Öffentlichkeit zwei Wochen lang in Atem hielt. Sehr schnell wurde deutlich, daß es nicht nur um ein paar unliebsame Demonstrationsteilnehmer ging, die das Luxemburg -Zitat von der Freiheit der Andersdenkenden für sich beansprucht hatten; führende Mitglieder der Ost-Berliner Oppositions- und Bürgerrechtsszene wurden unter dem Vorwurf des Landesverrates inhaftiert; die DDR erlebte eine beispiellose Solidaritätsbewegung, die landesweit in Fürbittgottesdiensten für die Freilassung der Inhaftierten protestierte. Währenddessen kreierten Staatsvertreter und Kirchenobere die auch von westdeutschen Politikern vielgepriesene „humanitäre Lösung“: Die beiden Symbolfiguren Stephan Krawczyk und Freya Klier sowie Ralf Hirsch wurden ausgebürgert. Die anderen, Vera Wollenberger, Lotte und Wolfgang Templin, Werner Fischer und Bärbel Bohley, wurden „auf Bewährung“ in den Westen geschickt - immerhin ein Novum im Umgang des Staates mit seinen Kritikern.
Inszenierte Rituale, Repression und die Beschwörung des Erreichten mit immer paradoxer klingenden Selbstbestätigungsformeln: Die SED reagiert nach altbewährtem, jedoch zunehmend erfolglosem Muster auf die immer drängenderen gesellschaftlichen Konflikte, auf die Ausreiseproblematik und vor allem auf die Forderung nach Demokratisierung. Politikunfähigkeit ist ein eher mildes Urteil für den Versuch der Partei, Probleme und Unzufriedenheit ihrer BürgerInnen mit martialischen Gesten unter der Decke zu halten: Kirchenzeitungen werden zensiert, weil sie überquellende Müllcontainer thematisieren; Schüler müssen ihre Schule verlassen, weil sie am schwarzen Brett das staatlich geduldete Maß an Meinungsfreiheit ignorieren. Die Tatsache allein, daß die SED bereit ist, sich mit derartigen Überreaktionen international der Lächerlichkeit preiszugeben, erhellt das Ausmaß ihrer Hilflosigkeit.
Das 'Sputnik'-Verbot verdeutlicht vielleicht am besten die Defensive, in der die Partei gefangen ist. Dabei sind die konkreten Probleme nicht neu. Ihre Brisanz erfahren sie jedoch vor dem Hintergrund, daß sich die gesellschaftliche Unzufriedenheit auf die - früher kritiklos imitierte Politik der Sowjetunion berufen kann. Hier liegt die eigentliche Ursache für die tiefste Krise der Partei seit den fünfziger Jahren. Was als außenpolitische Maxime gegenüber dem Westen gilt, wird nun auch gegenüber dem Osten praktiziert: Abgrenzung.
Die Mauer im Kopf
Genau diese Praxis der Abschottung wird dagegen in Teilen der Kirchenbasis problematisiert. „Man muß heute erkennen“, erklärte Jürgen Fischbeck, Mitglied einer Ost-Berliner Gemeinde, auf der Synode in Dresden, „daß der real existierende Sozialismus in unserem Lande an Prinzip und Praxis der Abgrenzung zu ersticken droht.“ Abgrenzung, das meint nicht nur die Abschottung gen Westen mit der Mauer als augenfälligstem Symbol, sondern auch die Abgrenzung nach innen, die Mauer in den Köpfen, das ständige Aufpolieren von Feindbildern, die Selbstisolation einer ganzen Gesellschaft, die zu Anpassung, Resignation und schließlich zur Ausreise führt.
Abgrenzung meint aber auch die immer größer werdende Kluft zwischen Staat und StaatsbürgerInnen. Zusammen mit den „20 Erneuerungsthesen“ des Pfarrers Schorlemer - Überwindung des Bürokratismus, Forderung nach Rechtssicherheit und Infragestellung des Wahlsystems - gelang es Mitgliedern der Kirchenbasis, eine DDR-spezifische Antwort auf das von Gorbatschow propagierte „neue Denken“ zu formulieren.
Nur mit Mühe und nicht zuletzt, weil die Institution Kirche selbst Repressionsmaßnahmen ausgesetzt war, nahm die Kirchenspitze die Diskussion an der Basis auf. Doch langsam können auch die Kirchenoberen über die gesellschaftliche Unzufriedenheit nicht mehr so einfach hinwegsehen. Dies wurde deutlich im Herbst dieses Jahres, als Bischof Leicht, Vorsitzender des Bundes der evangelischen Kirche, auf der Synode in Dessau die Forderung nach einer „Gesellschaft mit menschlichem Antlitz“ erhob. Eine Äußerung von neuer Qualität, die jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß die Kirchenführung nach wie vor zwischen Basisbedürfnissen und Staatsräson laviert und sich schwer damit tut, diese wegweisenden Diskussionen stärker in die Gesellschaft hineinzutragen.
Hilflose Opposition
Eine politische Kraft, die eine Demokratisierung in der DDR vorwärts treiben könnte, ist momentan nicht in Sicht. Die Künstler verhielten sich nicht nur nach den Januar -Ereignissen still, auch zu den weiteren Repressionsmaßnahmen des Staates schwiegen sie, neue Impulse kamen von ihnen nicht.
Großenteils desorientiert und hilflos reagierten in den vergangenen Monaten auch die Oppositionsgruppen. Mit wenigen Ausnahmen gab es kaum wegweisende Perspektiven oder Aktionsformen, die den Staat zur Veränderung herausforderten. Vor allem die Ost-Berliner Szene verlor sich in „Fehlerdiskussionen“, von denen man sich erst allmählich erholt. „Friedensfreunde“ beschimpften die in den Westen Abgeschobenen als „schwache Revolutionäre“ und sorgten für unnötigen Spaltstoff.
Nach dem Ende der großen Solidaritätsbewegung im letzten Januar zog man sich schnell in die alten Diskussionszirkel zurück. Dabei hatte noch 1987 die Opposition deutlicher denn je ihr neues Selbstbewußtsein gezeigt, etwa während des Kirchentages „von unten“ oder beim Olof-Palme-Marsch, wo kirchliche, staatliche und unabhängige Gruppen gemeinsam für Frieden und Abrüstung demonstrierten. „Den Rückenwind aus dem Osten und die große Solidarität in der Bevölkerung haben die Gruppen nicht als Chance genutzt, um stärker in die Gesellschaft hineinzuwirken“, resümiert rückblickend ein genauer Beobachter der Szenerie.
Daß das so ist, ist sicher kein individuelles Versagen, sondern liegt an den Bedingungen unter denen in der DDR Oppositionsarbeit geleistet werden muß. Im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Ländern können außerdem die wenigsten auf langjährige Erfahrungen zurückblicken. Über den Kreislauf Engagement-Knast-Ausreise in den Westen ist weder eine kontinuierliche Oppositionsdiskussion möglich, noch können Aktionsformen entwickelt werden, die angemessen auf die Repressionsmaßnahmen des Staates reagieren.
Birgit Meding
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