: Per Hammelsprung in die streikfreien Zeiten
■ Vollversammelte Mediziner stimmten gegen weiteren Boykott / Pro-Reden fanden Beifall, aber kein Gehör / Am Sonntag neue VV
Eine Atmosphäre wie im Bundestag, nur nicht so steril: In der Silberlaube eilen Medizinstudenten kurz vor Vollversammlungseröffnung geschäftig hin und her. Der Diskurs über das Für und Wider des Streiks beherrscht den Lärmpegel. „Wo ist denn bloß der Pit? Wir treffen uns doch sonst immer hier hinten“, murmelt ein Student in seinen Bart, den Blick vom obersten Rang des Hörsaals ins Getümmel zu seinen Füßen gerichtet.
Ungefähr zehn Vollversammlungen hat der Mediziner in spe in den letzten Wochen hinter sich gebracht. Wen verwundert's, wenn sich da die ersten Gewohnheitsrituale einschleichen? Wie immer hat er auf der letzten oberen Reihe Platz genommen, wie immer werden Kekse und Gummibärchen großzügig an die rundumsitzenden KollegInnen verteilt, wie immer ist der Hörsaal vollbesetzt. Wirklich vollbesetzt? Nein, diesmal ist er mehr als das, er platzt aus allen Nähten. Etwa 3.500 StudentInnen quetschen sich bis kurz vor das Rednerpult zusammen, um ihm ja nicht zu verpassen, den Hammelsprung. Und der funktioniert so: Wer für den Streik stimmt, der verlasse den Saal auf der rechten Seite, wer dagegen ist, schleiche sich zur linken Tür hinaus. So einfach ist das und ist es doch nicht. Denn es stimmt: Wer die Wahl hat, hat die Qual. Deshalb hat sich der Medizinerrat, der die Vollversammlung leitet, auch etwas besonderes zwecks Entscheidungshilfe ausgedacht: Zwölf rhetorische „Meisterleistungen“ für und wider den Streik. Die sechs Redner, die Argumente gegen den Streik vortragen, zeichnen sich vor allem dadurch aus, daß sie eines nicht können, nämlich reden. Mag ihr Argument, daß die Fortsetzung des Streiks einen Dialog mit der professoralen Ebene gefährde, für viele einleuchtend sein - die bessere „Show“ liefern die Pro-Redner. Dramatisch appelliert eine Medizinfrau: „Wir müssen Opfer bringen. Große Ziele bedürfen großer Opfer!“ Minutenlanger Beifall, und so manche Gänsehaut läßt die zuhörenden MedizinerInnen erschauern. Wenn Heckelmann sage, so ein anderer Redner, daß er es für unwahrscheinlich halte, daß 3.500 Studenten nur eines Fachbereichs zusammenkommen, um über die Zukunft der Universität zu diskutieren, dann müsse man ihn vom Gegenteil überzeugen. „Er sagt quasi, es gibt uns nicht, wir werden ihm zeigen, wie sehr es uns gibt
-per Streik!“
Begeisterungsstürme erfüllen den Hörsaal angesichts solch hinreißender Worte. „Wir sind doch das Vorbild für alle Medizinstudenten in Wessiland. Wenn wir weiterstreiken, dann streiken bald auch alle Fachbereiche bundesweit. Wir müßten uns dann nicht länger mit Turner und Konsorten befassen. Wir hätten Anspruch auf ein Bundesforum“, zeichnet eine Studentin den Weg in die Zukunft vor. Zu schön, um war zu sein, denkt sich wohl so mancher „Contra“, der wenig später den Saal zu linker Hand verläßt.
Und wirklich: In dem Moment, wo sich die beiden Abstimmungstüren öffnen, sind die Medizineraufläufe auf beiden Seiten etwa gleich groß. Über zwei Stunden dauert es, bis auch der letzte Studi den Hörsaal durch die „Stimmenschleusen“ verlassen hat. Die Sicherheitsvorkehrungen, die vor Wahlfälschungen schützen sollen, sind diesmal noch genauer als sonst. Jeder Abstimmungsberechtigte muß seinen Studentenausweis vorlegen. Seine „magic number“, die Immatrikulationsnummer, wird auf den ausliegenden Listen durchgestrichen. „So können wirklich nur die abstimmen, die Medizin studieren“, so die „Wahlbeauftragte“ mit dem Rotstift. Kurz nach Mitternacht liegt dann das Wahlergebnis vor. 54 Prozent der 3.349 Stimmen sind für die Fortsetzung des Streiks. 60 Prozent hätten es sein müssen, um sämtlichen Prüfungen und dem Physikum „adieu“ zu sagen. Vorerst bis zum kommenden Sonntag bleibt der medizinische Fachbereich streikfrei: Dann soll erneut abgestimmt werden, im Hinterkopf die Verhandlungsergebnisse der letzten Tage.
Die Stimmung im Hörsaal ist ganz nach dem Ergebnis: gespalten. Freude kommt auch nicht so recht bei denen auf, die den Hammelsprung als Erfolg werten können. Für sie heißt es jetzt: studieren, auf volle Kraft vorraus. Bis zum Physikum müssen sie den Stoff der letzten Wochen nachholen. Den Studis im Bundesland gegenüber sind sie jedenfalls im Nachteil. Auch wenn die Mediziner jetzt Tag und Nacht Leichen sezieren, Knochenbezeichnungen pauken und Formeln inhalieren - was bleibt hängen als das flaue Gefühl im Magen, wieder einmal nachgegeben zu haben?
Christine Berger
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