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Kino der Eidechsen

■ Nachträgliches zum 10.Internationalen Festival des Lateinamerikanischen Kinos

Andrea Klein und Ekko v. Schwichow

Ein sehr alter Herr mit riesigen Flügeln eröffnete das 10.Festival des Neuen Lateinamerikanischen Kinos in Havanna. Fernando Birris Verfilmung der gleichnamigen Erzählung von Marquez - von der kubanischen Presse als Absturz und von der italienischen Filmkritik als cineastischer Höhenflug gewertet - bildete den Auftakt für das inzwischen wichtigste Festival des Kontinents. Ungeachtet politischer Schwierigkeiten bietet das Festival seit zehn Jahren einer ständig wachsenden Besucherzahl einen Überblick über die neuesten Arbeiten lateinamerikanischen Filmschaffens und ermöglicht den Filmemachern, von denen viele - wie Pastor Vega, der Festivalleiter kommentierte - mit dem Film unter dem Arm kommen, einen Austausch untereinander. Diesmal gab es mehr als 250 Kurz- und Spielfilme, über 300 TV- und Videoarbeiten.

Die Quetchua sagen: „Hier das Süße, dort das Salz“, ganz so einfach fällt die Unterscheidung bei der ständig wachsenden Zahl der Festivalfilme jedoch nicht. Immerhin ist das „Neue Lateinamerikanische Kino“ keine Markenbezeichnung für ein Produkt, dessen filmische Ingredienzen genau definiert sind, sondern Ausdruck einer Bewegung, einer vor zwanzig Jahren begonnenen Suche. 1960 formulierte der brasilianische Filmemacher Glauber Rocha: „Der Filmemacher der Gegenwart muß ein mit den großen Problemen seiner Zeit befaßter Künstler sein.“ Die sechziger und siebziger Jahre mit den Klassikern der neueren lateinamerikanischen Filmgeschichte (u.a. Tire die, La Hora de los Hornos, La Batalla de Chile, Araya und vieles mehr) galten der politischen Definition und Stellungnahme, der Wiedererlangung der eigenen Geschichte und der kulturellen Identität. Aber wie sieht die Suche nach neuen Ausdrucksformen heute aus? Paul Leduc, Regisseur von Frida-Naturaleza viva (Festivalsieger von '85), stellt 1987 in seinem Seminar die These auf: „Das Kino der Dinosaurier ist tot. Auf, daß das Kino der Eidechsen lebe. Es lebe das Kino der Salamander.“ Aber jenes war auch bei dem diesjährigen Festival schwer auszumachen.

Wenn viele Produktionen des Neuen Lateinamerikanischen Kinos sich gleicher Qualitäten wie die Kinofilme aus den Industrieländern rühmen können, nämlich langweilig, sprach und bildlos genormt sind, die Bilder keine Erwartungen mehr wecken, sondern nur noch erfüllen, muß man sich jedoch in Erinnerung rufen, daß Kino zu machen in Lateinamerika Luxus ist. Auch das Kino leidet an den Strukturen der Unterentwicklung und Abhängigkeit.

Nicht nur politisch. Viele Filmemacher wurden ermordet, verschwanden, müssen im Exil leben und sind Repressionen ausgesetzt. Auch praktisch - wie in dem Seminar über die aktuelle Situation der Produktion und Distribution unter der Schirmherrschaft der Unesco herausgearbeitet wurde. Noch immer fehlen Distributions- und Projektionsmöglichkeiten, die die Kommunikation auf dem lateinamerikanischen Kontinent untereinander erlauben; noch immer erstickt das Monopol großer Verleihfirmen die Produktionsmöglichkeiten, und noch immer mangelt es, von Ausnahmen abgesehen, an einer Kulturpolitik zur Entwicklung des nationalen Kinos. Es leidet aber auch ästhetisch. Selbst die leicht zunehmende Zahl der Koproduktionen tut dem Neuen Lateinamerikanischen Kino nicht gut. Im Gegenteil. Versucht wird die Integration in den europäischen Markt und die Ausrichtung auf den Publikumsgeschmack. Aber meist ist der vorherrschende Geschmack auch der herrschende, und Produzenten der Industrieländer verwechseln aus Gründen des Kommerzes Volkskino gern mit Massenkino. Auch wenn Josephine Baker „Tengo dos amores, mi pais y Paris“ (Ich habe zwei Lieben, mein Land und Paris) sang, so ist es doch auffällig, daß gerade die „Amores Dificiles“ - im Rahmen des Festivals gezeigte Verfilmungen lateinamerikanischer Regisseure von Marquez-Erzählungen für das spanische Fernsehen RTE - sich als schwierige Lieben erwiesen. Hübsche geradlinig verfilmte Geschichten, denen es selten gelang, den assoziativen Rhythmus der Erzählungen einzufangen, ohne ihn in gleich erkennbare und erklärbare Bilder zu übersetzen. Hier zeigte sich die Standardisierung ästhetischer Visionen am deutlichsten.

Die Rezeption heute gestaltet sich schwieriger als in den Anfangsjahren, denn durch die zunehmende Urbanisierung und die Verbreitung des Fernsehens - die Fischgräten wachsen aus immer mehr Hausdächern - sieht sich das Neue Lateinamerikanische Kino mit einer Bildsprache konfrontiert, die es zu imitieren sucht, der es aber oft erliegt.

Es fällt schwer, sich an die Bilder des Festivalbeitrags La Amiga (Die Freundin) der Argentinierin Jeanine Meerapfel zu erinnern. Die Geschichte der Freundschaft zweier Frauen, ihre unterschiedlichen Lebensweisen während und nach der Diktatur in Argentinien bleiben oft unglaubwürdig. Die Widersprüchlichkeit und Mehrschichtigkeit der Beziehung der beiden Protagonistinnen - die Suche nach dem verschwundenen Sohn, das Engagement bei den Müttern des Plaza de Mayo der Einen und das Exil der Anderen, einer Schauspielerin - werden allzu glatt abgehandelt. In einem weiteren argentinischen Beitrag dagegen, in F.SolanesSur (Süden), der nicht nur in Cannes, sondern auch in Havanna zu Ehren kam (1.Spielfilmpreis), gestaltet sich Geschichte anders. Die Rückkehr Floreals aus dem Gefängnis, die vorsichtige Rückkehr Argentiniens zur Demokratie geraten zu einer nachträglichen nächtlichen fiktiven Diskussion. Aus dem Nebel der Erinnerung tauchen die Freunde auf, die letzten fünf Jahre erläuternd, kommentierend, sich rechtfertigend. Eine filmische und politische Einstellung, eng verknüpft mit der Liebesgeschichte Suzis und Floreals‘ sowie der Geschichte Argentiniens, die man so schnell nicht vergißt.

Die Imitation der standardisierten Fernseh-Bildsprache zwingt - wenn auch unbewußt - zur Übernahme der Ideologie. Der Mensch als passives, konsumierendes Objekt, Geschichte ertragend und nicht machend, wie in den Anfangsjahren des Neuen lateinamerikanischen Kinos noch gefordert. Ungefährlichen beschaulichen Rückblicken wie Los Anos del Miedo, eine Darstellung des Kampfes der Opposition gegen die venezolanische Diktatur der fünfziger Jahre, oder El Camino del Sur, romantisches Bild vom Leben einer illegalen Einwanderin, die in Argentinien zur Prostitution gezwungen wird, kann man nur Kästners Gedicht „In Memoriam Memoriae“ entgegenhalten: „Die Erinnerung ist eine mysteriöse Macht...“. Häßliche Erinnerungen, aber schöne glatte Bilder, die keine Fragen offenlassen. Alles ist bereits mit bunten Bildern besetzt.

Selbst bei dem 2.Spielfilmpreis La boca del Lobo (Der Rachen des Wolfes) von F.Lombardi zeigt sich die Ambiguität tradierter Filmmuster. In der spannend erzählten facettenreichen Charakterstudie junger peruanischer Soldaten im Kampf gegen den Sendero Luminoso und ihre Verstrickung in die immanente Logik des Krieges, die sie zum Massaker an einem ganzen Dorf verleitet, nimmt er sich zwar eines politisch heißen Eisens an, aber unter seiner Regie brennt es weniger heiß. Auf den Spuren des Identifikationskinos wandelnd, geraten die Senderos zur unsichtbaren Gefahr, die Bauern zur Staffage und die Auseinandersetzung zwischen den Soldaten eher zum individuellen Problem als zur Reflexion über Militärstrukturen.

Auch der erste vom nicaraguanischen Incine produzierte Spielfilm El Espectro de la Guerra von R.Lacayo setzt leider auf solche Identifikationsmuster. Der Film, der das Schicksal eines Jugendlichen beschreibt, der in Europa Tanz studieren will, jedoch seinen Einberufungsbefehl bekommt und zum Schutz der Dorfbevölkerung gegen die Contra eingesetzt wird, will auf Hollywood-Manier erziehen. Ironischerweise wird selbst in „Tiempo de Victoria“ (Radio Venceremos) - als Trophäe für die Massen bezeichnet - nicht viel Vertrauen in das Urteilsvermögen des Zuschauers gesetzt. Die achtjährige Geschichte des Kampfes der FMLN in El Salvador wird als lineare Entwicklung gezeigt, nicht als dialektischer Prozeß. Es gab und gibt keine Rückschläge, keine Niederlagen. Schnell hintereinander montierte Bilder chronologisch mit Kommentar überdeckt, vermitteln den Eindruck, der Sieg läge in greifbarer Nähe.

Und doch gibt es sie, die kleinen Eidechsen (Un Pasaje de Ida, Lo que vendra, Tango, baile nuestro, etc.), die die Suche nicht immer auf der Hauptstraße fortsetzen, sondern auf ungewöhnlichen und teils amüsanten Wegen, wie einige der kubanischen Filme zeigen. Hier hat sich seit längerem und besonders im Zuge der „rectificacion“ (Korrektur von Irrtümern) eine Kultur des ironischen Einmischungsfilms entwickelt, der dicht an der kubanischen Realität einen kritischen Umgang mit derselben verlangt. Ein solcher Film bekam denn auch den dritten Spielfilmpreis zuerkannt.Plaff o demasiado Miedo a la Vida (Plaff oder zuviel Angst vor dem Leben) von Juan Carlos Tabio heißt der richtungsweisende Titel, bei dem von Wohnungsnot über Funktionärstum und -bereicherung bis Generationskonflikt, Woodoo und Beziehungsproblemen kein aktuelles Thema ausgelassen wird. Obendrein bezieht der Regisseur die Kritik am Film in den Film mit ein. Eine Spiegeltür reflektiert zum Schluß Unmutserklärungen des Regisseurs und die Diskussion um das unter inhaltlicher, formaler und organisatorischer Schlampigkeit leidende cine imperfecto.

Einer der seltenen Filme von politischer und poetischer Kraft, die keine Wahrheiten gefunden haben, ist der chilenische Film Historias de Lagartos (Geschichten von Eidechsen) von Juan Carlos Bustamante. Der aus finanziellen Gründen aus drei Teilen bestehende Film ist eine Studie der alltäglichen Gewalt. Das Unbewußte bewußt machen, Anzeichen sehen und zu deuten wissen, bedeutet gleichzeitig persönliche wie auch politische Sensibilisierung. Die Kameraführung korrespondiert mit dem Inhalt, sie verharrt ruhig, aber nicht im Stillstand.

Glauber Rochas Anspruch, daß die Vorstellungen eines neuen Kinos sich mit den Vorstellungen einer neuen Gesellschaft treffen, ist schwer einzulösen. Die Suche nach neuen Ausdrucksformen als Reflexion der Realität und die Möglichkeit sie zu überwinden, gestaltet sich mühsam. Viele machen Film als neue Kunst, wenige Neues Lateinamerikanisches Kino als neue Kultur.

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