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Literaten

■ Raten & Gewinnen

Alle meine lieben Kinder, Gottfried,

August, Wilhelm, Adelbert,

Luischen, u. Emil.

Ich bin jetzt nah an der Grenze Deutschlands u. habe die großen Tyrolerberge beinah zurückgelegt. Es sind hohe Berge, auf einigen war viel Schnee, und die sogenannte Pforte oder Klause, dadurch man nach Tyrol kommt, ist besonders wild, schön u. prächtig. Auch die Martinswand sind wir vorbeigekommen, wo der Kaiser Maximilian sich verstieg, u. haben in Insbruck mitten in der Kirche ein sehr schönes Monument auf ihn gesehen, wovon ich Euch mündlich erzählen werde. Jetzt bin ich nun in Botzen, wo heut eine unsägliche Menge Volks ist, weil 19.000 Kinder gefirmelt werden sollen, da der Bischof in vielen Jahren nicht gefirmelt hat, weil er zu faul gewesen. Da ist nun vor unserm Wirtshause zur Sonne ein solcher Obstmarkt, als Ihr in Eurem Leben nicht gesehen habt, u. so schönes Obst, als Ihr noch nie gegessen habt. Birnen, Quetschen, Weintrauben, Nüsse, Feigen: denn hier wachsen schon Feigen, u. bald werden wir auch dahin kommen, wo die Pomeranzen- u. Zitronenbäume wachsen. O daß Ihr hier mit mir wäret, oder ich Euch einen Korb solches Obsts zuschicken könnte; aber das schöne Obst faulte unterwegs, wie zuweilen die schönsten menschlichen Hoffnungen von innen heraus verwesen. Auch gibt es hier schon platte Dächer, wie es in Italien viele geben soll, wo man denn weit umhersehen kann, u. die Luft ist gar sanft, warm u. milde. Auf den Tirolerbergen haben wir auch Gemsli springen gesehen; auch Eins in Inspruck gegessen, u. ein zahmes gesehen, das gar niedlich war, seiner Nährerin, einer Bauersfrau, überall hin folgte, u. so geschlank war, als ich Euch allen zu sein wünsche. Da wollte ich, daß Ihr dabei gewesen wäret u. es gesehen hättet; auch wünschte ich, daß Ihr die Tirolerberge einmal sehen u. fröhlich bereisen möget. Lernt nur fleißig, u. führt Euch gut auf; lernt auch hübsch zeichnen, denn das beklage ich sehr, daß ichs nicht kann. Es sind gar zu schöne Gegenden und zehntausend Wasserfälle zwischen den Bergen, die ein Strom, die Etsch oder Adige macht. Er fließt sehr schnell zwischen den Gebirgen, u. hat insonderheit im Bischoftum Brixen schöne Bäume an seinem Ufer, Pappel-, Birken und Weidenbäume. Wir sind viele Stunden weit neben ihm gefahren; sucht nur hübsch auf der Karte nach, da könnt Ihr unsre Fahrt finden. Morgen kommen wir nach Trento, da finde ich vielleicht u. gewiß Nachricht von Euch. Lebt wohl, lieben Kinder, habt mich lieb u. seid gesund, u. lebt mit Eurer Mutter u. dem ganzen Hause wohl. Es ist jetzt spät, u. Ihr werdet schon meistens in Euren Bettchen schlafen. Schlaft wohl.

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