Ost-West-Atomseminar in Lüneburg

Sowjetische Delegation zum Atomseminar mit den Grünen eingetroffen / Orientierung auf Konfrontation verhindert gegenseitiges Kennenlernen / Auftaktveranstaltung über radioaktive Niedrigstrahlung  ■  Von Reimar Paul

Lüchow-Dannenberg (taz) - Keinen Krim-Sekt, aber zwei Flaschen Henkell-Trocken gab es am Mittwoch abend beim improvisierten Empfang auf dem Lüneburger Bahnhof. Pünktlich um halb sechs waren die neun sowjetischen Gäste, Teilnehmer des von den Grünen organisierten „Ost-West-Atomseminar“ dem Eilzug entstiegen.

Nicht erst seit Tschernobyl werde in der UdSSR offen über Atomenergie diskutiert, offen und kontrovers, beschied Delegationsmitglied Alexander Arbatow, Laborleiter am Insitut der Wissenschaften und Sohn des sowjetischen West -Experten Juri Arbatow, einem Reporter. Ein Ausdruck davon sei die Teilnahme an dieser Tagung, von der man sich „kritische Impulse“ und Anregungen verspreche.

Die absolute Wahrheit hätten er und seine Kollegen nicht in der Tasche, sagte Delegationsleiter Ivan Frolow, Gorbatschows Umweltberater, bei der abendlichen Auftaktveranstaltung im Tagungszentrum Göhrde. Und er denke, erklärte er den 60 Anwesenden, das gelte auch für die deutschen Gesprächspartner. Wenn man dies voraussetze, sei ein „erfolgreiches Gelingen“ des seit langem vorbereiteten Seminars, dessen Zustandekommen dem „neuen politischen Denken“ in der Sowjetunion zu verdanken sei, „sehr wahrscheinlich“.

Getrennte Sitzordnung, dann beim Abendessen. Die starke Orientierung des Grünen-Vorbereitungskreises auf politische und inhaltliche Konfrontation statt auf persönliche und gastfreundliche Gesten gegenüber der UdSSR-Delegation, aber auch die physische Erschöpfung der Gäste verhinderten eine direkte, nicht nur offizielle Seminar-Kommunikation. So warteten die westdeutschen Teilnehmer, Grüne, Anti-AKW -Bewegte und Öko-Wissenschaftler in der Dorfkneipe vergeblich auf „die Russen“.

Die inhaltlichen Diskussionen begannen am Montag mit Referaten über Niedrigstrahlung. Jens Scheer entwickelte seine These von erheblichen, im Detail noch nicht erforschten, gesundheitlichen Risiken gerade im Wirkungsbereich niedriger Aktivitätsdosen. Heiko Ziggel, ebenfalls von der Uni Bremen, faßte seine Forschungsergebnisse über erhöhte Kindersterblichkeit infolge des Tschernobyl-Unfalls zusammen.

Demgegenüber verwies Jewgeni Ignatienko vom sowjetischen Atomministerium auf eine Studie der UNO, nach der die von Atomkraftwerken im Normalbetrieb ausgehende Strahlung bedeutend geringer sei als die von der Erdoberfläche ausgehende oder in der Medizin entstehende Radioaktivität. Die Debatte, in die immer wieder auch ZuhörerInnen eingriffen, brachte keine Ergebnisse oder auch nur Annäherungsversuche. Ignatienko bestritt Ansätze, daß die gesundheitsschädigende Wirkung von geringeren Strahlendosen bewiesen sei.

Am Wochenende geht das Seminar weiter. Unter anderem ist dann eine öffentliche Veranstaltung über Tschernobyl vorgesehen.